Schweig still, mein totes Herz (German Edition)
und stellte sich zum zweiten Mal zwischen sie und den Leoparden, obwohl er sich dabei am Geländer abstützen musste. Sie sah eine große Pistole in seiner Hand – mit der er sie jederzeit hätte umbringen können, wenn er das gewollt hätte.
»Gehen Sie rein«, sagte er und legte mit beiden Händen auf den Leoparden an. Der duckte sich, bereit zum Sprung.
»Sie auch«, sagte Lena und zerrte an seiner Lederweste. Sie war mit silbernen Aufnähern verziert, der eine zeigte einen Sensemann, auf dem anderen stand ›Prospect‹ – er war also ein Anwärter der Reaper.
An seinem Zögern erkannte Lena, wie ungern er auf das wunderschöne Tier schoss. »Ich wünschte, ich hätte ein Betäubungsgewehr«, murmelte er, atmete tief durch und zielte.
Der Leopard schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn er stürzte sich nicht auf sie, sondern preschte in entgegengesetzter Richtung davon und verschwand im Wald.
»Kommen Sie rein, ehe er zurückkommt«, sagte Lena.
Der Mann folgte ihr in die Hütte, ließ die Tür aber leicht offen stehen. Und er achtete darauf, ihr beim Laufen nicht den Fluchtweg zu versperren.
»Ich weiß, dass Sie Angst haben«, sagte er. Dann streckte er ihr die Pistole hin, mit dem Lauf auf sich selbst gerichtet. »Ich versuche nur zu helfen, wirklich.«
Lena nahm die Waffe. Sie war schwer. Aus nächster Nähe wäre jeder Schuss tödlich. Um das zu erkennen, musste man kein Waffenexperte sein. Sie hielt die Pistole eine Weile in der Hand, betrachtete den Mann, der mit blutendem Arm und leicht schwankend vor ihr stand, und ließ die Pistole schließlich in ihre Manteltasche gleiten. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Gott hatte einen Plan für sie, und dem würde sie folgen.
»Sie werden mir keine große Hilfe sein, wenn Sie wieder ohnmächtig werden«, sagte sie dem Mann. »Wie wäre es, wenn Sie sich hinsetzen und mich den Arm ansehen lassen.«
Das hätte ihrer Mutter gefallen.
Trotz des Schnees – oder vielleicht gerade deswegen – beschloss Goose, die Harley zu nehmen und nicht den Pick-up. Er musste einen freien Kopf bekommen. Und das ging am besten, wenn er seine Maschine über verschlungene Straßen mit tückischen Kurven lenkte und ihm der Fahrtwind ins Gesicht schlug.
In Cherokee angekommen fuhr er nicht bis zur Stadtgrenze und weiter ins Indianerland zum
VistaView
, sondern zu einer kleinen Pension, vor der er sein Motorrad abstellte. Er ging zu einem der Zimmer, das nach hinten raus führte.
Eine Frau öffnete ihm die Tür. Sie trug eine schwarze Lederweste, Jeans und jede Menge Tätowierungen. Eine davon lautete
Eigentum von Wilson
. »Du bist spät dran.«
Goose gab keine Antwort, schob sich an ihr vorbei und ging zu dem kleinen Tisch, an dem Wilson saß. Er hatte eine Dose Bier in der Hand, die er sich auf ein anschwellendes Veilchen drückte. Wilson sah so ungefähr aus wie der junge Jimmy Buffet, nur dass er statt Hawaiihemd und Flipflops ein Harley-Davidson-Shirt und Stiefel mit Stahlkappe trug, die bestens dazu geeignet waren, jemandem die Rippen zu brechen.
»Guter Zeitpunkt, eine Schlägerei anzuzetteln.« Goose nahm das Bier, das Karlee ihm anbot, stieß darauf mit Wilson an und zog den Dosenverschluss auf.
»Hoffentlich war es das wert. Konntest du in der Zeit die Vans durchsuchen?«
»Den aus Georgia und den der Daytona. Das Bargeld war in keinem von beiden.«
»Die werden drei Millionen auf keinen Fall in ein paar Satteltaschen transportieren.« Wilson gab es auf, das Auge zu kühlen, und öffnete sein Bier.
»Bist du sicher, dass du dich nicht verhört hast?«, fragte Karlee, die hinter Wilson an der Wand lehnte. Sie klang misstrauisch, ganz offensichtlich traute sie Goose nicht viel zu.
Goose ignorierte sie und konzentrierte sich lieber auf Wilson. »Poppy sagte, dieses Wochenende würden über drei Millionen reinkommen, und dass der Poker Run die perfekte Ablenkung wäre.«
Den meisten Menschen war nicht bewusst, dass die Reaper im großen Stil Geldwäsche betrieben und somit hier im Südosten an einem Großteil des Geschäfts mit Prostitution, Drogen und Waffen ihren Anteil hatten – allerdings ohne sich selbst beim Drogen- oder Waffenverkauf die Hände schmutzig machen zu müssen. Derlei Aktivitäten zogen auch viel zu oft die Aufmerksamkeit des FBI auf sich, von gewalttätigen Auseinandersetzungen unter Rockern mal ganz abgesehen.
Goose hatte über ein Jahr gebraucht, um an Insiderinformationen über die Geldgeschäfte der Reaper zu kommen. Wenn
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