Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
Vom Netzwerk:
gespaltene Oberlippe. Die hatte ihm, Jahre bevor ich ihn kannte, seinen Beinamen bei den Tausenden von Schülern verschafft, die im Lauf der Zeit das Kolleg besucht hatten, an dem er unterrichtete. Er war nicht nur mein Lehrer für Religion und Latein, er war auch Militärgeistlicher. Er wachte bei den täglichen Unterrichtsstunden über meinen gesunden Geist und an meinen freien Samstagen oder Sonntagen bei den Pfadfindern über meinen gesunden Körper. Zwei Jahre lang. Wenn der Hase zwischen den Unterrichtsstunden über den überfüllten Spielplatz lief, bewegte er sich wie ein Schatten. Er schlängelte sich beweglich durch die Fußball spielenden Jungen. Jeder, der ihn kannte, spurtete schnell hinter dem Ball her und wenn der nicht in Reichweite war, hinter einem eingebildeten Ball, zur anderen Seite des eckigen Platzes, nur um dem Hasen auszuweichen. Sonst wurde man seine Beute. Er hatte einen traurigen Blick, ein abscheuliches Grinsen und stechende Augen, die nach einem Opfer Ausschau hielten, das er lispelnd packte: ›Nach der letzten Unterrichtsstunde auf mein Zimmer.‹ Der Hase hat mich das Sprinten gelehrt. Aber nicht sofort. Ich war kleiner, weniger schnell und reagierte häufig zu spät, um ihm zu entkommen. Auf den Fotos aus der Zeit sieht man, wie ich damals war, ein frischgebackenes Kommunionskind, mit dieser Reinheit, die alle verlieren, wenn die Pickel oder der Bart an der Kehle, das erste Schamhaar und der Flaum auf der Oberlippe sprießen. Ich war mager, gut gekleidet, hatte kurz geschnittene Haare und war hygienisch einwandfrei. Und im Jungenchor des Kollegiums zu singen galt als Plus. Genauso wie mein Einsatz als Messdiener am Sonntagen, wenn ich mit meinem bleischweren Fahrrad um sieben Uhr morgens durch den Herbstnebel die achtzehn Kilometer zur Stadt zurücklegte. Dann hockte ich in einem etwas schmutzigen weißen Kleid auf meinen bloßen Knien in einer kleinen Seitenkapelle der barocken Kirche und diente ohne Publikum dem Herrn. Der Herr war der Hase. Allgegenwärtig, allwissend, Herr über seine Welt und letzten Endes auch meine. Die Tür, die den Gang des Kollegiums von seinem muffigen Zimmer trennte, trug die Spuren meiner Stirn. Ich habe oft minutenlang gezögert, mit dem Kopf an der Tür gewartet, bevor meine Faust leise anklopfte, denn was dann kam, war absehbar. Aber ich war nun mal berufen. Und berufen war berufen. Darüber sprach der Hase andauernd. Die Schule war leer, bis auf ein paar Dutzend Interne, die im Studiersaal saßen, bis es Zeit für das Abendessen war. ›Komm!‹ Ich hasste dieses ›Komm!‹.«
    Lilly rückte näher an ihn heran. Victor rückte wieder von ihr weg.
    »Ich öffnete die Zimmertür und ging hinein. Er saß in dem großen Sessel hinter seinem Schreibtisch, schleimte herum, damit ich näherkam, und sobald ich nah genug war, nahm er meine Hand in seine und zog mich noch näher heran. Er schob seinen Stuhl zuerst nach hinten, sodass ich vor ihm stand, und dann wieder nach vorne, sodass ich wehrlos zwischen ihm und dem Rand seines Schreibtisches eingeklemmt wurde. Sein grauer Atem stank nach Kaffee und Brot, Käse und Zigarrenrauch. Die Essensreste hingen noch gelblich zwischen seinen verfärbten Zähnen. Sein Gesicht war grob, die grauen Stoppeln seines Eintagebarts machten ihn zu einem wirklich widerlichen alten Mann. So wie er dasaß, war ich kaum größer als er. Ich konnte den Hasen nicht sehen, aber ich fühlte ihn mehr als mir lieb war. Solange ich ihm den Rücken zudrehen konnte, war alles erträglicher, solange ich ihm nicht in die Augen schauen musste, war alles besser. Bis zu dem Moment, als ich auf seine Tischplatte hinabsah und meine eigene, regelmäßige Handschrift erkannte. Blaue Wörter auf gepunkteten Linien. Der Hase schob seinen Sessel noch näher heran. Vor mir lag das Prüfungsblatt von diesem Morgen, mit roten Strichen im Text und Häkchen am Rand korrigiert und mit dem noch leeren Punktekästchen in der linken oberen Ecke, neben dem Abzeichen der Schule. Ich fühlte seine groben, dicken, kleinen Hände über meine nackten Beine gleiten. Er verteilte kleine Kniffe und Streicheleinheiten, während er fragte, wie viele Punkte ich mir selbst auf dem Prüfungsblatt, das vor mir lag, geben würde. Er murmelte die Frage mit schleppender Stimme und endete mit ›na?‹. Ich durfte es selbst sagen. Es schien schon lange kein Licht mehr durch die Fenster. Die Schule war schon seit mehr als einer halben Stunde aus, und ich stellte mir vor, dass

Weitere Kostenlose Bücher