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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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all meine Freunde jetzt wahrscheinlich schon sicher zu Hause an einem gedeckten Tisch saßen. Aber der Hase hatte sich schon daran gewöhnt, dass ich ihm sagte, ich müsse dringend weg, dass mein Bus schon lange abgefahren sei und ich jetzt einen späteren nehmen müsse, um noch rechtzeitig beim Abendessen zu sein. Er hatte immer dieselbe Antwort parat: Ich würde schon eine befriedigende Erklärung abliefern. Mein nächster Bus führe erst in einer Stunde, und den würde ich sicher bekommen. Ich müsse noch ein kleines bisschen bleiben, es sei bald vorbei. Er nahm seinen roten Kugelschreiber und beugte seinen Kopf über meine linke Schulter, um auf das Blatt vor uns sehen zu können, während er mich auf seinen Schoß zog. Mit dem Kugelschreiber in der rechten Hand suchte er das zweigeteilte, leere Kästchen links oben auf dem Blatt. Das obere Fach war für die erreichte Punktzahl bestimmt, das untere für das Maximum, das bei dieser Prüfung vergeben wurde. Er setzte unten die Note zehn ein und beschriftete danach das obere Kästchen mit einer Null. Mein Gesicht berührte sein raues, unrasiertes Kinn, als ich erschreckt seinen Blick suchte, weil ich die Null nicht verstand. Der Hase lachte laut. ›Jetzt habe ich dich aber ganz schön erschreckt, was?‹, prustete er. Ich fühlte seine linke Hand auf meinem Unterleib, während er mich noch enger gegen sich drückte. Er kniff leicht in die Vorderseite meiner dicken kurzen Hose. Ich konnte jede Bewegung spüren. Sein kleiner Finger suchte unter dem Rand meiner Unterhose nach der weichen, unbehaarten Haut an meinem Hodensack. Er summte, während er sich mit anschwellenden Bewegungen gegen meinen Körper drückte. Dann sah ich seinen Kugelschreiber auf die linke Seite der Null wandern. Der Hase fragte, aufgesetzt neckisch, ob der Strich nach oben gehen sollte für eine Sechs oder auf der rechten Seite der Null nach unten für eine Neun. Eine Sechs statt einer Neun machte für meine Mutter einen enormen Unterschied. Und nicht gerade den kleinsten in den Fächern Religion oder Latein.«
    Es war still. Sie lagen reglos nebeneinander. Lilly robbte sich näher an ihn heran. Sie küsste sanft seinen Hals und schlang ihren Arm um ihn. »Hast du das schon mal jemandem erzählt?«, fragte sie flüsternd.
    »Niemandem.«
    »Warum nicht?
    Victor zögerte. »Weil mir damals niemand geglaubt hätte.«
    »Auch deine Mutter nicht?«
    »Vor allem meine Mutter nicht.«
    »Und dein Vater?«
    »Der war für unsere Probleme nicht ansprechbar. Er arbeitete. Meine Mutter hätte sowieso verhindert, dass ich zu ihm gehe.«
    »Und später?«
    »Später hat niemand danach gefragt.«
    Er rollte sich noch kleiner zusammen als er sich fühlte, ganz in ihren Schoß. Lilly streichelte ihn in den Schlaf.

11
    Victor sprang aus dem Bett. Er ging in sein Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Er tippte die Internetadresse des belgischen Telefonbuchs ein, wartete kurz und suchte dann Walters Familiennamen und seine Postleitzahl. Auf dem Bildschirm erschienen zwei Namen. Einer mit dem Vornamen Frans und einer mit Walter. Er notierte die Adresse und die Telefonnummer in seinem Notizbuch und sah auf die Uhr seines Computers. Sechs Uhr. Zu früh. Er dachte darüber nach, ob er wach bleiben oder wieder schlafen gehen sollte, aber Moira entschied für ihn. »Bleib ruhig liegen. Ich nehme sie schon.«
    Lilly löste sich mühsam aus ihrem Schlaf. Sie zog sich mit beiden Armen im Bett nach oben und sagte: »Victor, sie hat Hunger. Dabei kannst du mir nicht helfen.«
    »Ich bringe sie dir und wenn du fertig bist, übernehme ich sie wieder.«
    »Danke.«
    Er ging in die Küche, ließ einen Espresso aus der Maschine und setzte sich wieder vor den Computer. Er googelte den Namen seines Vaters. Nichts. Er tippte Walters vollständigen Namen ein. Nichts. Victor ging mit seinem Kaffee ins Badezimmer und fing an sich zu rasieren. »Um acht Uhr kann ich ihn anrufen. Oder ist das zu früh?«, fragte er den Spiegel. »Acht Uhr ist in Ordnung. Walter ist ein Frühaufsteher«, antwortete der Spiegel.
    Nach dem Duschen holte er Moira bei Lilly ab und nahm sie mit in sein Arbeitszimmer. Er legte sie in die Babywippe und ließ seinen Computer leise Musik abspielen. »Sieben Uhr.«
    Walter musste zwanzig gewesen sein, als er anfing, für Albert zu arbeiten. Albert nahm ihn unter seine Fittiche wie einen Sohn. Er bekam alle Chancen, Ausbildungen, Abendschule. Victor sah ihn im Büro neben seinem Vater sitzen. Nur eine

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