Schweig wenn du sprichst
Backofen.
»Komm schon. Erzähl, was ist hier los?«, fragte Andrea begeistert.
»Lilly, ich finde, dass Eltern ihre Kinder bedingungslos lieben sollten«, sagte Victor ernst. »Egal wie schwierig die Umstände sind. Das lässt sich vom Elternsein nicht trennen.« Er löffelte Marinade auf die Garnelen und drehte die Temperatur des Ofens runter. »Sie sind schließlich in hohem Maße dafür mitverantwortlich, was aus dem lieben Söhnchen oder Töchterlein wird. Eine Mutter, die keine bedingungslose Liebe aufbringen kann, versagt kläglich.«
»So eine Aussage finde ich ziemlich arrogant und unsympathisch«, sagte Lilly.
»Das ist keine Aussage«, sagte Victor. »Das ist ein Konzept. Und deine Reaktion hat sehr viel damit zu tun, was das deutsche Wort ›bedingungslos‹ impliziert.«
»Das hat bei uns offensichtlich eine viel gewichtigere Bedeutung als euer Wort ›onvoorwaardelijk‹. Übrigens, wo bleibt in deinem Konzept die bedingungslose Liebe von Kindern zu ihren Eltern?«, fragte Lilly provozierend.
»Die hat da nichts zu suchen«, sagte Victor trocken. »Wir sind ein genetisches Produkt unserer Eltern, nicht umgekehrt.«
»Schwachsinn!«, rief Lilly, mit beiden Hände wie ein Megafon um ihren Mund geformt.
»Bingo«, rief Stefan und sah auf seine Uhr. »Gewonnen. Lass die zehn Euro rüberwachsen, Schwester.«
»Was?«
»Wir haben gewettet und ich habe gewonnen. Nach weniger als zehn Minuten ein heftiger Streit«, sagte Stefan.
»Sind wir schon so schlimm?«, fragte Lilly erstaunt.
Victor sah alle verwundert an.
»Nein, nein, Lilly«, sagte Andrea, während sie sie am Arm nahm.
»Für uns ist das kein Problem. Ihr seid so ungefähr die einzigen Freunde, bei denen wir uns noch normal fühlen. Merkt ihr nicht auch, wie lange andere Leute aneinander vorbeireden und ihre heiklen Themen an solchen Abenden vermeiden? Bei euch sind wir immer sicher, dass es Feuerwerk gibt, und das lieben wir.«
»Darauf stoßen wir jetzt an. Das Essen ist in zehn Minuten fertig«, sagte Victor und tippte an die Gläser.
Stefan näherte sich Victor und fragte: »Du hast mir doch neulich erzählt, dass du von der Deutschen Dienststelle in Berlin keine Antwort bekämest?«
»Ja, habe ich immer noch nicht.«
Stefan griff in seinen Rucksack, nahm einen Umschlag heraus und wedelte damit in der Luft. »Ich habe ein paar Fäden gezogen«, sagte er. »Sie haben es allerdings mir statt dir geschickt. Aber das macht nichts, denke ich?«
»Hey! Danke, Mann! Hast du gelesen, was drin steht?«
»Ich habe es noch nicht geöffnet«, sagte Stefan. »Das überlasse ich dir.«
»Los, mach auf«, sagte Victor.
Stefan nahm die Papiere aus dem Umschlag und las, neben Victor stehend.
»Was bedeutet paranephritischer Abszess?«, fragte Victor.
Lilly und Andrea schauten sich an und schüttelten die Köpfe.
»Keine Ahnung«, sagte Stefan. »Kann ich kurz ins Internet?«
»Bring meinen Laptop mit in die Küche«, sagte Victor.
»Victor, bitte!«, sagte Lilly.
»Meine Show, Liebes. Meine Show.«
»Da haben sich wohl zwei gefunden«, sagte Andrea.
»Lilly, nimmst du in fünf Minuten das Essen aus dem Ofen und servierst es?«, fragte Victor.
»Ich helfe dir«, sagte Andrea.
Stefan kam herein und hatte bereits die Antwort: »Eitrige Entzündung des Bindegewebes um die Nieren.«
»Klingt nicht sehr schön«, sagte Andrea, »glücklicherweise kann ich mir nichts darunter vorstellen.«
»Stefan, du musst mir helfen. Da stehen zu viele Abkürzungen und Codes drin. Übersetz es bitte in verständliches Deutsch.«
Stefan erklärte Victor, was das Schreiben besagte. »Erstens: dein Vater wurde zweimal in Breslauer Krankenhäuser aufgenommen, einmal ins Reservelazarett X, einmal ins Reservelazarett V. Hier steht von wann bis wann. Das erste Mal wurde die Entzündung festgestellt und er wurde operiert. Er ist zwei Wochen zur Genesung geblieben und dann zu seinem Bataillon zurückgekehrt. Das zweite Mal war ungefähr fünf Monate später. Da wurden Verwachsungen festgestellt und ein Geschwür an einer Niere. Der wurde nicht entfernt, weil die Ärzte befürchteten, die Operation folge zu schnell auf die erste. Hier steht, dass dein Vater damit nicht einverstanden war, aber die Ärzte blieben bei ihrem Standpunkt. Er wurde für eine Woche zur Erholung nach Koflach geschickt, und nach seinem Urlaub wollten sie die Situation erneut evaluieren. Es sind keine weiteren Meldungen über Krankenhausaufenthalte vorhanden.«
Victor übernahm die
Weitere Kostenlose Bücher