Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
kommen sollte, dorthin zu fahren.«
»Ganz einfach: Sie ist erheblich schlauer, als ihr gedacht habt. Und Alois ist erheblich dümmer. Aber das steht ohnehin fest, denn sonst wäre es gar nicht zu dieser Situation gekommen.«
»Du hast ja keine Ahnung, was hier damals los war«, entgegnete Dallmann aufgebracht. »Wie oft soll ich es dir noch erklären? Die konnten nicht anders. Und ich auch. Was hätten wir tun sollen? Den Ruf der ganzen Gegend ruinieren? Die Situation ist im Grunde genauso wie damals. Und sieh doch, wie du dich verhältst. Zeig uns doch an, wenn du meinst, dass das das Beste wäre! Los! Mach doch. Oder steige endlich von deinem hohen moralischen Ross herunter und komme in der Wirklichkeit an, verdammt noch mal.«
Konrad Dallmann schwieg.
Sein Vater ließ ihm noch ein paar Augenblicke für eine Erwiderung, dann legte er nach: »Dieser Lehrer war doch selbst schuld. Was hatte er dort verloren? Wir konnten einfach nichts mehr machen, nachdem es nun mal geschehen war. Im Sommer 79 stand ohnehin schon der halbe Landkreis kopf wegen diesem Pertini-Besuch. Der Landkreis, habe ich gesagt? Bis in die Münchener Staatskanzlei hinein lagen die Nerven blank. Der Ministerpräsident und frisch gekürte Kanzlerschaftsanwärter Strauß sollte einen ausländischen Staatspräsidenten bei einem KZ-Besuch begleiten, weil der seinen dort verstorbenen Bruder ehren will! Das an sich war ja schon eine Zumutung. Weißt du, was für chaotische Anweisungen für die Sicherheitsplanung damals seit Mitte August auf unsere Schreibtische heruntergeregnet sind? Stündlich hat sich alles immer wieder geändert. Pertini kommt allein, hieß es zunächst. Es sei ein privater Besuch. Nein, hieß es dann. Er kommt in Begleitung eines Staatssekretärs. Dann wurde alles abgesagt. Wegen der Proteste. Und schließlich hat Strauß beschlossen, doch mitzukommen. Als Privatperson! Dass ich nicht lache. Die Protokollchefs standen am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Und hier vor Ort? Ein Tanz auf rohen Eiern, sage ich dir. Wir haben wochenlang wie unter einem riesigen Vergrößerungsglas operiert. Die ganze verfluchte Weltpresse unterwegs nach Flossenbürg, auf der Schleimspur von diesem Italiener. Und ausgerechnet da muss dieser dahergelaufene Biologielehrer in einem vergessenen Waldstück herumgraben.«
Gustav Dallmanns Kopf war rot angelaufen vor Erregung und Empörung.
»Stell dir das doch mal vor: Pertini und Strauß in Flossenbürg, und dreißig Kilometer entfernt wird ein Massengrab mit ermordeten KZ-Häftlingen entdeckt! Das konnte ich unmöglich zulassen.«
Konrad wollte nun doch etwas einwenden, aber sein Vater hatte sich in Rage geredet: »Das sagt einem doch schon die Staatsräson«, schimpfte er. »Das hätte denen so gepasst. Deutschland auf die Knie. Mal wieder in der Büßerpose. Und wahrscheinlich wären Alois, Rudolf, Albrecht und ich selbst auch noch als Erste in den Genuss des druckfrischen Drecksgesetzes vom Juli 1979 gekommen, wonach Mord neuerdings nicht mehr verjährte. Dieses Schandgesetz … Und selbst wenn man hoffen konnte, dass Strauß diesen Sozi Schmidt ablösen würde und das Skandalgesetz wieder kassierte – wir wären trotzdem dran gewesen. Erledigt! Wir alle. Ist dir das eigentlich klar?« Seine Stimme überschlug sich.
Er atmete mehrmals tief durch, bevor er, um Fassung ringend, fortfuhr: »Und von wegen Ablösung. Weder hat Strauß die Wahlen gewonnen. Noch hat bis heute jemand gewagt, diesen Schandparagraphen wieder abzuschaffen. So sieht’s aus. Also! Ich habe das einzig Richtige getan. Es war Notwehr, Konrad. Dieser Lehrer war nun mal tot. Da war sowieso nichts mehr zu machen. Und ich frage dich noch einmal: Was zum Teufel hatte der in einem Privatwald herumzugraben? Ein später Kriegsschaden war das. Es explodiert ja auch immer mal wieder irgendwo eine alte Fliegerbombe. So ist das eben nach einem Krieg. Finger weg von dem alten Zeug. Wer da nicht aufpasst und zu neugierig ist, der ist eben selbst schuld.«
Gustav Dallmann blickte erwartungsvoll seinen Sohn an. Aber der schaute nach wie vor geradeaus auf die Straße und erwiderte nichts. Seine Mundwinkel zuckten leicht, als wollte er etwas sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Dallmann wandte sich von ihm ab und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen.
Die Leute heute hatten doch keine Vorstellung davon, was das am Ende für ein Chaos gewesen war. Und was für ein Riesenglück sie alle gehabt hatten. Die Amerikaner schon
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