Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Steine oder Werkzeuge tragen.«
Er ging voraus. Anja schaffte nicht einmal drei Schritte, bevor sie mit schmerzverzerrtem Gesicht zum ersten Mal einknickte. Der scharfkantige Untergrund tat höllisch weh. Sie setzte sich auf einen Steinblock, um Gewicht von ihren Fußsohlen zu nehmen, aber Skrowka rief sie sofort zur Ordnung.
»Hey. Nicht schummeln. Das macht mindestens fünf Schläge mit dem Knüppel. Und nichts zu essen.«
Anja schaute verstimmt zu ihm auf. Was versprach er sich von diesem Experiment? Vorsichtig tastend folgte sie ihm dann aber doch. Bei jedem Schritt schnitten ihr schartige Kanten oder herumliegende Steinsplitter in die Fußsohlen. Oft stützte sie sich ab, und es dauerte einige Minuten, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. Er saß bereits oben auf der kleinen Anhöhe, massierte sich die Fußsohlen und erwartete sie.
»Manchmal frage ich mich, ob man den Besuch einer Gedenkstätte nicht so beginnen sollte. Barfuß. Oder auf den Knien wie in Fatima. Am besten mit zwanzig Kilo Granitsteinen auf dem Rücken, vorzugsweise im November bei Eis und Schnee. Nur damit man wenigstens den Hauch einer Ahnung davon bekommt, wie hier Tausende krepiert sind, bevor man sich irgendwelche Fotos oder Glasvitrinen anschaut. Viele haben nicht länger als ein paar Wochen überlebt. Bei jedem Wetter hier heraus, nichts zu essen bis mittags, und selbst dann nur eine mickrige Ration. Viel zu dünne Kleidung. Schlechte oder gar keine Schuhe bei Minusgraden. Wer kann sich das auch nur ansatzweise vorstellen? Welche Kreatur kann einer anderen Kreatur so etwas antun? Monatelang. Jahrelang. An Weihnachten wurde ein Weihnachtsbaum auf dem Appellplatz aufgestellt und daneben ein Galgen. Man hängte sechs Gefangene. Die anderen mussten zusehen, wie sie starben, und dabei Weihnachtslieder singen. Ständig gab es spontane Gewaltexzesse, keine hundert Meter Luftlinie entfernt vom Bäcker- und Fleischerladen, vom Kirchenaltar und dem Rathaus, vom Tennisplatz der SS-Siedlung.«
Anja schwieg. Das weiß ich doch alles, dachte sie. Gar nichts weißt du, schrien indessen ihre Füße. Überhaupt nichts. Und selbst wenn du über diese Steine stolperst, bis deine Füße nur noch blutige Stummel sind, wirst du es nicht wissen. Denn was soll dein Paar Füße lernen können über die Hunderttausende, die man verschleppt hat, über Folter und Mord, über die unsäglichsten Untaten, für die sich im ganzen großen Universum kein wie auch immer gearteter plausibler Grund finden lässt? Nur weil es möglich gemacht und getan wurde.
»Haben damals auch Leute aus der Gegend hier im Lager gearbeitet?«, fragte sie.
»Möglich.« Skrowka plazierte seine nackten Füße auf einer sonnengewärmten, glatten Steinfläche. »Dieses Lager war vollständig in die Region eingebunden. Selbst ein Vernichtungslager braucht ja jede Menge Material und Dienstleistungen. Die kleinen Unternehmen und Gewerbetreibenden rissen sich um die Aufträge. Außerdem lieh man sich die KZler gern für allerlei Arbeiten aus. Landwirtschaft braucht viele Hände. Wir haben jede Menge Briefe dieser Art gefunden. ›Sehr geehrter Herr Sturmbannführer. Unterzeichnete bittet Herrn Sturmbannführer um 4 Mann Häftlinge zum Heumähen.‹ Wir haben Anfragen von Schlossern, Klempnern, Lieferanten von Verbandsmaterial und Textilgrossisten gefunden, die mit Aufträgen beehrt werden wollten. Weiden, Windischeschenbach, Hildweinsreuth. Bis in das letzte Kaff wurde für das Lager gearbeitet und geliefert.«
»Gibt es darüber Akten? Haben die Amerikaner das nicht alles untersucht?«
»Die waren doch kaum in der Lage, mehr als ein paar Dutzend der übelsten Folterer und Mörder zu identifizieren und festzusetzen. Die meisten sind untergetaucht und nie gefunden worden. Außerdem ist es ein Mythos zu glauben, dass Deutschland sich befreit gefühlt hätte und an einer Strafverfolgung der Täter wirklich interessiert gewesen wäre. Befreiung? Das ist eine reine Sprachregelung.
Die Mehrheit hatte überhaupt kein Problem damit, in Sichtweite von einem Lager zu leben, wo unschuldige Menschen grausam misshandelt und zu Tode gequält wurden. Das ist schwer zu begreifen. Aber es ist so. Und falls ein letzter Beweis für die allgemeine Vertiertheit noch gefehlt hätte, muss man sich nur vergegenwärtigen, was sich noch in den allerletzten Kriegstagen abgespielt hat. Mancherorts wurden Lagerhäftlinge, die in den Wirren des Zusammenbruchs entkommen waren und hilflos durch die Dörfer und Wälder
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