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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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ihre Jacken auszogen und unter den Arm nahmen. Der Ort lag still und friedlich da, und es bereitete Anja große Schwierigkeiten, das, was sie bis jetzt gehört hatte, mit dieser Szenerie in Einklang zu bringen. Skrowka bog auf einen schmalen Weg ab, der nach wenigen Metern steil anstieg. Kurz darauf hatten sie ausreichend an Höhe gewonnen, um die Umgebung gut überblicken zu können. Der markanteste Punkt des Ortes lag direkt über ihnen: die Burgruine.
    »Das Arbeitslager ist ursprünglich wegen der Granitvorkommen hier errichtet worden«, erklärte er. »Zu Beginn spielten wirtschaftliche Interessen noch die Hauptrolle. Dort hinten links sehen Sie einen Teil des Steinbruchs. Vom Lager selbst ist im Moment nur noch der ehemalige Appellplatz zwischen den beiden Baracken zu erkennen, also nur ein Bruchteil der einstigen Gesamtfläche.«
    »Das Lager lag also tatsächlich direkt neben dem Dorf?«
    »Ja. Und nach dem Krieg ist das Dorf dann auch recht schnell über das Gelände hinweggewachsen. Bis vor zwei Jahren war der ehemalige Appellplatz noch Industriefläche. Die Kabelfabrik dort hat jahrelang produziert. Sie ist mittlerweile fast vollständig verschwunden. Nur ein Gebäude steht noch, wie Sie sehen können. Es wird aber demnächst entfernt. Die Neubausiedlung direkt neben dem Lager kann man natürlich nicht abreißen. Früher standen dort die Baracken. Ein ziemlich makabrer Bauplatz. Aber so ist es nun mal.«
    Er zog einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und holte einen vergilbten Karton daraus hervor. »Hier. Das zeige ich Besuchern manchmal, wenn sie an dieser Stelle stehen. Aber seien Sie vorsichtig. Es soll irgendwann einmal ausgestellt werden, wenn einmal eine richtige Gedenkstätte gebaut wird. Das achtjährige Kind, das diese Postkarte 1944 gemalt hat, hat genau hier gestanden.«
    Anja nahm die Karte. In kindlicher Bleistift-Krakelschrift stand darauf zu lesen: Floß 16.4.44. Lieber Vater! Denk Dir mal, ich hab einen Frosch der quaken kann (10 pfg). Für Deine schönen Karten herzlichen Dank. Morgen ist der letzte (Ferien) Tag, Morgen wird Radau gemacht. Es grüßt Dich Dein Hansi.
    Auf der Rückseite hatte Hansi mit Buntstiften seinen Ferienort gemalt und in einer Legende die markantesten Punkte darauf beschriftet. Ruine Flossenbürg stand neben einigen braun ausgemalten Flächen auf einem angedeuteten Berg. Ein unförmiger schwarzer Fleck davor war mit Stein beschriftet. Links neben dem Steinbruch waren fünf längliche Flachbauten zwischen Bäumen an einem Hang gezeichnet. SS-Siedlung hatte Hansi in der Legende vermerkt. Die ganze rechte untere Ecke der Postkarte dominierte ein Gebäudekomplex mit sieben rauchenden Schornsteinen, vor dem horizontale und vertikale Linien vielleicht eine Mauer oder einen Zaun darstellen sollten. Das Ganze sah aus wie eine Fabrikanlage, aber die Legende war eindeutig: Konz.Lager stand dort. In Kinderschrift.
    »Der Bahnhof war dort drüben«, erklärte Skrowka. »Die Neuankömmlinge wurden über die Dorfstraße ins Lager getrieben. Die Menschen waren bei der Ankunft meist schon entkräftet. Bereits auf dem kurzen Weg bis zum Lager spielten sich entsetzliche Szenen ab. Hunde. Knüppel. Man machte ja keinerlei Unterschied. Männer, Frauen, Kinder. Dann die übliche Erstbehandlung: Ausziehen und sadistisches Abspritzen der ängstlich zusammengedrängten Menschen mit kaltem Wasser in der Waschküche. Alle persönlichen Gegenstände wurden eingezogen, und es blieben lediglich die Häftlingskleidung und eine Nummer. Dann kam der Appellplatz. Stundenlanges Warten und Stehen, oft bei eisigen Temperaturen. Die Ersten starben bereits dort.«
    Skrowka machte eine Pause. Seine Stimme verriet nichts über seine Gefühle. Sie schlugen sich lediglich in seinen Wangen nieder, die sich leicht gerötet hatten.
    »Gehen wir weiter?« Er stieg vor ihr den Pfad wieder hinab. Sie überquerten die Dorfstraße. Kurz darauf betraten sie den Steinbruch. Anjas Blick schweifte über die trostlose Szenerie geborstener Granitblöcke und Steinhaufen. Skrowka setzte sich auf einen der Blöcke und begann, seine Schnürsenkel zu lösen.
    »Kommen Sie«, sagte er zu Anja. »Ziehen Sie mal Ihre Schuhe und Strümpfe aus.«
    Sie sah ihn verständnislos an. »Warum?«
    »Na machen Sie schon.«
    Sie bückte sich, krempelte ihre Hosenbeine hoch und tat wie ihr befohlen.
    »Wir gehen nur das kleine Stück dort hinauf. Mehr als zwanzig Meter sind es nicht. Das Wetter ist gut. Und Sie müssen auch keine

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