Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Engelchen soll ein Verhältnis mit einem SS-Mann gehabt haben. Wie bereits gesagt, hat sie das Lager Ende 1944 verlassen. Im Frühjahr 1945, wann genau, wissen wir nicht, gab es im Kasino einen Zwischenfall. Es hieß, ein Angehöriger der Wehrmacht habe auf einen SS-Mann geschossen, und der habe den Angreifer getötet. Wir haben keinerlei Dokumente über den Vorfall gefunden, was nicht verwunderlich ist. So eine Sache ist mit Sicherheit vertuscht worden.«
»Wer war das Opfer?«
»Das wissen wir nicht. Wir wissen nicht einmal, ob es jemand aus dem Stab war oder nicht. Manche sagen, es sei um einen internen Konflikt zwischen Wehrmacht und SS gegangen. Andere behaupten, der Ehemann von Engelchen habe versucht, einen SS-Scharführer abzuknallen, weil der Engelchen angeblich geschwängert hatte. Deshalb sei sie an Weihnachten ja auch aus dem Lager verschwunden. Aber wie gesagt, das sind alles nur Lagergerüchte. Schwer nachzuweisen.«
Anja erhob sich. »Herr Skrowka«, sagte sie matt, »ich glaube, ich werde doch nicht mit Ihnen zu Frau Altmeier fahren. Bitte seien Sie mir nicht böse, aber ich muss das alles erst verarbeiten. Und Sie müssen ja nun bald los.«
Er sah auf die Uhr. »Ja, stimmt. Aber ich habe durchaus Verständnis für Ihre Reaktion. Sie können gern wiederkommen, wenn Sie weitere Informationen brauchen. Oder auch, wenn Sie einfach nur reden möchten. Ich bin in den nächsten Wochen hier.«
»Das ist sehr nett von Ihnen. Danke.«
Er begleitete sie zur Tür. »Gute Fahrt. Forstamt Waldmünchen, sagten Sie. Kann ich Sie dort erreichen?«
»Es wäre mir lieber, Sie rufen dort nicht an. Ich geben Ihnen meine Handynummer.«
Sie schrieb sie auf einen Zettel, der auf dem Tisch lag.
»Alles Gute, Frau Grimm. Und wie gesagt, ich bin jederzeit erreichbar.«
»Danke. Auf Wiedersehen.«
Sie verließ das Zimmer und eilte aus dem Rathaus hinaus. Als sie in ihrem VW-Bus saß, zitterte sie. Ihr Blick fiel auf die Burgruine über ihr. Die Dorfstraße war menschenleer. Wie in Trance startete sie den Motor. Aber es dauerte noch einige Minuten, bis sie in der Lage war, loszufahren.
Und sie hatte keine Ahnung, wohin.
48
W altraud Gollas starrte auf die inzwischen vollständig beschlagene Scheibe. Rupert öffnete nun auch ihr Fenster einen Spalt weit, aber das bisschen frische Luft, das hereinströmte, war weitgehend wirkungslos. Waltraud Gollas begann zu sprechen, in kurzen und teilweise unvollständigen Sätzen. Wie grauenvoll das damals gewesen sei, als der Lehrer nicht mehr aus dem Wald zurückkam. Was für ein Horror das gewesen sei – für die Frau, vor allem aber für das arme Kind. Wochenlang hatten sie keine Ahnung gehabt, was geschehen war, waren fest davon überzeugt gewesen, dass es ein Unfall gewesen sein musste, ein Unglücksfall, dass der Mann sich verlaufen hatte oder unglücklich gestürzt sei. Doch dann war Xaver verhaftet worden, und auf einmal hieß es in der ganzen Gegend, dass er es gewesen sei. Wer auch sonst? Er war schließlich ein Depperter. Ein Unfall wurde immer unwahrscheinlicher, denn da hätten die Hunde doch die Leiche finden müssen. Dass er am Eisernen Vorhang erschossen oder entführt worden sei, glaubten nur ganz wenige. Blieb nur Xaver, der leugnete, sich aber auch nicht richtig verteidigte.
»Du weißt ja, wie er war, der arme Kerl. Die haben ihn immer wieder geholt. Das hat den so fertiggemacht. Aber gestanden hat er es nie. Irgendwann konnten wir das nicht mehr mit ansehen und haben einen Anwalt genommen. Aus Nürnberg. So einen richtigen. Der hat Xaver von einem Spezialisten untersuchen lassen, und der hat gesagt, wenn man den Xaver noch weiter unter Druck setzt, könnte der sich möglicherweise etwas antun. Und die ganzen Verhöre hatten ja auch gar nichts gebracht. Es gab keine Leiche. Kein Motiv. Es gab nur meinen armen, depperten Bruder, der bisher noch nie einer Fliege etwas zuleid getan hatte.«
Sie schneuzte sich und rieb sich das Gesicht sauber.
»Sie mussten ihn dann irgendwann gehen lassen. Aber natürlich glaubte jeder, dass er es gewesen war. Deshalb wurde er danach noch komischer. Und … natürlich wussten auch wir nicht, wie wir damit umgehen sollten. Denn wenn er es doch getan hatte, warum auch immer, konnte er es ja wieder tun. Wir hatten Angst vor ihm, Rupert. Außerdem machte der Alois uns gegenüber ein paar Andeutungen. Das war erst später. Niemand hat es jemals ausgesprochen, Rupert. Aber mit den Jahren hat sich doch hier bei jedem die
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