Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Gewissheit verfestigt, dass es eben doch der Xaver gewesen ist. Wer auch sonst?«
Sie verstummte, und ihr Blick verdüsterte sich.
»Aber warum?«, zischte sie plötzlich. »Das war doch die eigentliche Frage. Mein Bruder war ein armer, kranker Mensch, Rupert. Es war ein Wahn in ihm. Wenn ich ihn in späteren Jahren im Wald sah, da ging es mir jedes Mal durch und durch. Wenn er im Haingries hockte, stundenlang. Auf der Wildwiese. Er hat es vielleicht getan. Aber schuld sind andere.«
»Wer ist woran schuld?«, fragte Rupert. Er spürte, dass seine Mutter sich sträubte. Aber zugleich drängte es sie, es loszuwerden. Er wartete. Sie hatte sich wieder von ihm abgewandt, aber er spürte, dass sie sprechen würde. Es hatte zu regnen begonnen, und man hörte die Tropfen auf das Autodach trommeln.
»Im Haingries war lange Jahre etwas vergraben, Rupert. Etwas von früher. Jeder hier weiß das. Niemand spricht darüber. Aber es ist bekannt. Es haben doch damals alle mitgemacht, als die Zebras gejagt wurden.«
»Zebras? Wovon redest du, Mutter?«
»Von den Sträflingen, Rupert. Am Kriegsende sind die hier zu Tausenden durchgetrieben worden. Die wurden regelrecht zu Tode gehetzt. Wenn welche entkommen sind, hat man sie eingefangen und erschossen. Und wer den Soldaten entkam, den erledigten Milizen. Es waren nicht alle so. Manche haben den armen Kreaturen auch geholfen, obwohl es lebensgefährlich war. Aber nicht viele. Davon wisst ihr doch gar nichts. Wie die SS hier bis zum Schluss gewütet hat, jeden aufhängte oder abknallte, der sich ergeben oder das Morden beenden wollte. Ich war ja noch gar nicht geboren. Aber der Xaver hat das noch erlebt. Das ganze Dorf hat damals bei der Jagd auf entflohene Häftlinge mitgemacht. Ich weiß nicht, wie viele sie eingefangen und umgebracht haben, Rupert. Aber sie lagen jahrelang dort oben im Haingries. Die Stelle war bekannt. Jeder mied sie.«
Rupert drehte sich langsam zu seiner Mutter um. Er wollte etwas sagen, aber er war sprachlos.
Sie blinzelte kurz, ihre Lider zitterten, doch sie hielt seinem Blick stand. »Der Xaver ging immer wieder zu diesem Brennnesselfeld. Da konnte der Alois ihn windelweich prügeln. Er schlich dort herum wie ein Geist. Es war, als ob er den Ort bewachte.«
»Er hat also davon gewusst?«
»Niemand spricht über diese Sache, Rupert. Niemand. Der Wind vielleicht. Die Bäume. Kein Dörfler wird dir jemals erzählen, was die damals hier mit den Sträflingen gemacht haben. Aber eines weiß ich sicher: Nachdem der Grimm Anja ihr Vater verschwunden war, hat der Alois den Haingries roden lassen. Und was immer vorher dort vergraben gewesen war, das haben sie beseitigt. Nur wenige Wochen nach dem Verschwinden dieses Lehrers.«
Sie verstummte wieder. Rupert schüttelte ungläubig den Kopf. »Im Haingries war ein Massengrab? Und ihr habt das gewusst?«
Waltraud Gollas’ Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Gewusst?«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor. »Meinst du vielleicht, wir hätten nachgeschaut? Meinst du, ich habe meinen Vater gefragt, was er im Krieg getan hat, oder der Franz hätte vom Albrecht Rechenschaft verlangt, oder dem Heinbichler oder dem Dallmann seine Söhne von ihren Vätern? Und was ist erst mit den anderen, die schon gar nicht mehr leben?«
Sie schluchzte wieder.
Rupert blickte wie betäubt auf sein Lenkrad. Waltraud schneuzte sich. »Xaver war mein Bruder, Rupert … Wahrscheinlich hat er uns alle nur schützen wollen. Der Vater von der Anja war doch immer im Wald. Oft hat er Pflanzen ausgegraben. Der Xaver muss Angst bekommen haben, dass er auf die Knochen stößt.«
Rupert blickte finster vor sich. Sie sah ihn flehend an, aber er erwiderte ihren Blick voller Verachtung.
»Was seid ihr denn nur für Menschen?«, stieß Rupert hervor.
»WIR«, brach es aus ihr heraus. »Wir? Was haben WIR denn getan, Rupert? Gar nichts. Aber bezahlen werden wir. Sterbewald wird unser Land bald heißen. Mordwald. Dort liegt unsere Zukunft jetzt. Deine Zukunft. Begraben im Haingries. Und wenn das alles jetzt doch noch rauskommt, dann gnade uns Gott.«
»Zukunft!«, schrie er sie an. Er wusste nicht, wohin mit seiner Empörung. »Du ahnst seit Jahren, dass der Xaver der Anja ihren Vater umgebracht hat!«, wiederholte er, als würde der Sachverhalt durch die Wiederholung weniger ekelhaft. »Und jetzt auch noch das. Habt ihr hier eigentlich noch irgendeine Ehre, irgendwelchen Anstand im Leib? Lukas weiß es auch. Doch anstatt es ihr zu
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