Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Kaufmannsschule gegangen. Glühende Hitlerverehrerin. 1943 kam sie zur SS und kurz darauf nach Flossenbürg. Die Lagerinsassen nannten sie ›Engelchen‹. Das war dort der Galgenhumor. Das Monster Fritzsch hieß wegen seiner kleinen Statur ›Stäubchen‹. Engelchen hat Neugeborene von jüdischen Gefangenen noch am Bett neben der Mutter in einem Eimer ersäuft. Ihr Judenhass war ebenso grenzenlos wie ihre Hitlerverehrung.
Vorübergehend organisierte sie auch den Bordellbetrieb. Sie war sehr schön. Es gab sogar ein richtiges Eifersuchtsdrama um sie, mit einem Schusswechsel im SS-Kasino. Sie ist um Weihnachten 1944 aus dem Lager entfernt wurde. Das war vermutlich ein Glück für sie, denn so hatte sie Zeit, unterzutauchen. Vielleicht war Gott wenigstens bei ihr gerecht, und sie ist am Ende von einer Bombe zerrissen worden. Aber ich fürchte, sie wohnt heute irgendwo unbehelligt und blinzelt in die Sonne. Hier.« Er deutete auf die Fotowand. »Vor zwei Jahren ist ein Foto von ihr aufgetaucht. Die kleine Porträtaufnahme dort unten rechts. Das ist sie. Das heißt: So hat Engelchen damals ausgesehen. Teufelchen müsste man eigentlich sagen.«
Anja erhob sich und beugte sich zu der Stelle auf der Pinnwand vor, um das Bild genauer sehen können. Die Porträtaufnahme zeigte eine junge Frau in Arbeitsdienstuniform. Sie lächelte halb stolz, halb kokett in die Kamera.
Es war Anna Leybach.
46
W ir haben nicht mehr viel Zeit«, erklärte Konrad ohne Umschweife, als sie Heinbichlers Keller betraten und am Tisch Platz nahmen, wo Heinbichler und Alois Leybach bereits auf sie warteten. »Anja Grimm ist heute Morgen nach Flossenbürg gefahren. Wir wissen nicht, ob sie etwas ahnt oder gar schon etwas weiß. Ich werde nicht warten, bis ich das bis ins Einzelne ergründet habe. Wir müssen sofort handeln. Das sieht wohl jeder hier so, oder?«
»Von mir aus«, erwiderte Alois Leybach nach einer kurzen Pause. »Aber ich verstehe noch immer nicht, was sie denn herausgefunden haben kann, das uns schaden könnte.«
»Möglicherweise hat sie in deinem Haus etwas gefunden. Sie ist heute Morgen dort gewesen und anschließend stracks nach Flossenbürg aufgebrochen.«
Die drei alten Männer sahen ihn entgeistert an.
»Das sagst du mir erst jetzt?«, stammelte Gustav Dallmann.
»Sie war in meinem Haus?«, donnerte Alois Leybach los. »Sie ist in mein Haus eingedrungen?«
»Ja, Alois. Genau. Sie ist einfach hineingegangen und hat fast eine Stunde dort zugebracht.«
Alois Leybachs Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. Sein hochmütiger Blick war verschwunden, und in seinen Augen flackerte Hass. »Dieses Weib ist also wirklich aus ganz anderen Gründen hier, als es vorgibt«, stieß er mit gepresster Stimme hervor.
»So sieht es aus«, erwiderte Konrad Dallmann. »Aber wie gesagt, ich werde nicht warten, bis wir es genau wissen, denn dann ist es mit Sicherheit zu spät.«
»Kann sie denn bei euch etwas gefunden haben, Alois?«, wollte Heinbichler wissen.
»Was denn?«, raunzte der zurück.
»Unterlagen?«, warf Konrad ein.
Alois schüttelte energisch den Kopf. »Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich? Und was denn für Unterlagen? Da ist nichts. Mich gibt es überhaupt nicht. Ich existiere nicht mehr. Meine werte Tochter hat vor vier Jahren sogar ein Aufgebot für meine Todeserklärung bestellt …«
»Das ist jetzt ohnehin nicht von Belang«, entgegnete Konrad scharf und sah ungeduldig in die Runde. »Wenn wir Pech haben, stößt Anja Grimm in den nächsten Tagen auf eure Hinterlassenschaft. Was dann hier los sein wird, brauche ich euch ja nicht zu erklären. Vom Problem Xaver und Johannes Grimm ganz zu schweigen. Also: Es darf nicht geschehen. Die Frage ist: Wie verhindern wir es? Ich hätte gern ein paar Vorschläge gehört.«
Aber bevor einer der drei alten Männer etwas sagen konnte, klingelte Dallmanns Handy.
Es war einer der beiden Polizisten, die Anja nach Flossenbürg gefolgt waren. Konrad Dallmann ging ins Wohnzimmer hinauf und ließ sich die Ereignisse der letzten Stunde schildern.
»Und?«, fragte sein Vater, als er kurz darauf wieder in den Keller zurückkehrte.
»Sie ist noch dort. Sie hat mit diesem Skrowka den Steinbruch besichtigt.«
»Skrowka!«, brummte Heinbichler. »Diese Schmeißfliege.«
»Wer ist das?«, fragte Alois Leybach dazwischen.
»Ein junger Historiker«, erklärte Gustav Dallmann. »Stammt aus Kohlberg. Wühlt hier überall herum. Seit 1996 bekommt er sogar Geld dafür. Er
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