Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
selbst. Und jetzt ein Lebkuchenhaus.
»Lukas, ich muss dir etwas sagen.«
»Ja?«
»Ich muss dir etwas gestehen. Ich habe Xaver angezeigt. Ich glaube, dass er meinen Vater umgebracht hat. Und ich glaube auch, dass er ihn hier irgendwo vergraben hat.«
Lukas senkte den Blick. Einige Augenblicke lang sagte er kein Wort. Dann nickte er und sagte kleinlaut: »Ich weiß. Wir wurden informiert.«
»Was weißt du?«
»Ich weiß, dass du Xaver verdächtigst.«
»Ah. Du weißt es also.« Sie musterte ihn.
»Ich wollte mit dir darüber reden. Am letzten Montag. Als Rupert aufgetaucht ist.«
»Ah. So? Worüber habt ihr da überhaupt gestritten?«
»Darüber«, sagte Lukas kleinlaut. »Über dich. Und über deine Anzeige. Rupert wollte, dass ich dir die Meinung sage.«
»Aber du hast nichts gesagt.«
»Du auch nicht, oder? Im Gegenteil. Du bist zu mir gekommen.«
Sie schwiegen. Lukas suchte ihre Hand. »Bis du deshalb hier? Um deinen Vater zu suchen?«
Sie schaute ihn unwillig an. »Was ist denn das für eine Frage? Fragst du auch das Wasser, warum es den Berg herunterfließt? Oder warum es morgens hell wird? Ich suche meinen Vater, seit er zwischen diesen Bäumen verschwunden ist. Jeden Morgen habe ich gewartet, dass er kommt, mich weckt und mich in die Schule bringt, jeden Mittag gewünscht, dass er mich abholt. Jeden Abend gehofft, dass ich aufwache, dass alles nur ein böser Traum war, dass er hereinkommt, sich auf die Bettkante setzt und meinen Namen sagt. Es gibt keine Sekunde, in der ich ihn nicht suche, Lukas. Völlig gleichgültig, was ich tue oder nicht tue.«
Er sah betreten zu Boden. Anjas Blick verschwamm. Sie schluckte und wischte sich über die Augen. »Es tut mir leid, Lukas. Du kannst ja nichts dafür. Und wir … was wir gestern getan haben, vielleicht ist das passiert, weil ich das alles manchmal nicht mehr aushalte. Weil ich auch will, dass es weggeht.«
Er konnte ihr noch immer nicht in die Augen sehen.
»Wie denkst du darüber, Lukas?«
»Vielleicht kann das ja der Anfang sein, dass es endlich aufhört«, sagte er behutsam. »Wenn … wenn sich herausstellt, dass es wirklich der Xaver gewesen ist. Dass er in seinem Irrsinn deinem Vater etwas angetan hat, dann …«
»Dann was, Lukas? Dann bauen wir hier zusammen ein Lebkuchenhaus?«
Er verzog das Gesicht.
»Manche Dinge vergehen nicht, Lukas. Sie vergehen nie, sondern sie werden nur immer schlimmer. Es wächst kein Gras darüber. Und auch kein Märchenwald. Im Gegenteil. Es wachsen ganz andere Dinge. Soll ich sie dir zeigen? Willst du mal sehen, was in deinem Zauberwald wächst, Lukas?«
Bevor er reagieren konnte, ergriff sie seine Hand. »Komm!« Sie führte ihn langsam Richtung Hochsitz. »Ich glaube nicht an Märchen, Lukas. Obwohl ich Grimm heiße. Doch es ist merkwürdig. Kaum bohre ich in deinem Waldboden herum, stoße ich tatsächlich auf Gespenster, Lukas. Auf echte Ungeheuer.«
Lukas blieb stehen. »Wovon redest du?«
»Von dieser Wiese, Lukas. Von deinem Rehgehege oder deiner Kaninchenwiese. Vor zwanzig Jahren standen hier noch Fichten. Erinnerst du dich?«
Er schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung mit den Schultern, die unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass er überhaupt nicht begriff, inwiefern das von Belang sein sollte.
»Ich habe es überprüft. Im Forstamt. Da haben sie die Bestandspläne und Luftaufnahmen noch. Bis 1979 standen hier achtzigjährige Fichten. Im gleichen Herbst wurde die Fläche gerodet. Auf Antrag von eurem Jagdpächter Heinbichler. Im Oktober.«
Lukas schaute sie verständnislos an. »Ja und?«
»Weißt du, was in einem Fichtenwald wächst?«
»Nein. Keine Ahnung. Fichten.«
»Genau. Sonst nicht viel. Fichten sind Flachwurzler, die viel Wasser ziehen und den Boden sauer machen. So ein Fichtennadelteppich ist äußerst ungemütlich. Deshalb sieht ein Fichtenwald meistens recht leer aus. Aber dort drüben war der Wald damals nicht leer. Im Gegenteil. Dort stand ein großes Brennnesselfeld. Fünf mal sechs Meter in der Fläche und fast mannshoch. Jedenfalls hat mein Vater es so in einem seiner Herbarienbücher verzeichnet.«
Sie ging ihm voran, bis sie die Stelle erreicht hatte, und wartete. Lukas hielt argwöhnisch Abstand.
»Komm doch näher. Es passiert dir nichts.«
Er machte einige Schritte auf sie zu, blieb dann aber wieder stehen. »Was soll das, Anja?«
»Hier standen also diese Stauden«, fuhr sie unbeirrt fort. »Mein Vater hat die Eintragung nicht datiert. Aber er
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