Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
versteckte. Und da war auch noch ein Fotoalbum. Mit Fotos von Alois und Anna, kurz nach ihrer Heirat. Anna hieß übrigens nicht Anna, wusstest du das? Sie hieß Johanna. Johanna Ruschka.«
Lukas ließ die Dose zu Boden fallen, stürzte auf sie los und packte sie an den Armen. »Was fällt dir eigentlich ein?«, schrie er sie an. »Bist du komplett übergeschnappt?«
Sie sah ruhig zu ihm auf.
»Bei Kriegsende sind Tausende von KZ-Häftlingen auf Todesmärschen durch dieses Gebiet getrieben worden. Plötzlich war der Krieg zu Ende. Die ehemaligen Massenmörder und ihre Opfer standen sich auf einmal hier im Wald gegenüber. Was für eine Situation! Die alliierten Truppen nur ein paar Kilometer entfernt.«
Lukas ließ sie wieder los und stieß sie von sich. »Hör auf. Ich will diesen Unsinn gar nicht hören. Was zum Teufel bildest du dir ein? Meine Familie mag ihre Fehler haben, aber das … das ist ungeheuerlich.«
Anja ging in die Knie, hob die Dose auf und sammelte die Stücke ein, die herausgefallen waren.
Lukas stampfte aufgeregt hin und her. »Weißt du überhaupt, was du da sagst?«
Anja verstaute schweigend die Dose in ihrem Rucksack und sah zu ihm auf. Sein Kopf war vor Zorn rot angelaufen.
»Im Haingries gab es ein Massengrab, Lukas. Davon bin ich überzeugt. Vielleicht hat eine Dorfmiliz das Massaker durchgeführt. Oder Leute, die in einem der vielen anderen Lager in dieser Gegend gearbeitet hatten. Leute, die hier wohnten und genau wussten, was ihnen blühen konnte, falls Zeugen ihres Tuns überlebten …«
»Hör auf«, rief er zornig. »Hör auf.« Er starrte sie empört an. »Wer bist du, zum Teufel? Was willst du von uns?«
Doch bevor sie antworten konnte, drehte er sich brüsk um und stapfte durch den Wald davon.
53
E r ignorierte ihren Anruf. Was konnte seine Mutter jetzt von ihm wollen? Er hatte keinerlei Lust auf ein Gespräch mit ihr. Das Gerät zeigte außerdem drei Anrufe von Rupert an. Mit dem wollte er jetzt zuallerletzt reden. Er saß reglos in seinem Wagen und starrte auf die im Abenddunkel allmählich grau werdende Landschaft.
Er war zu seinem Auto geeilt und einfach losgefahren. Aber nach zwei Kilometern war er rechts rangefahren, hatte den Motor abgeschaltet und wie gelähmt dagesessen. Alles in ihm war in Aufruhr. War Anja verrückt geworden? Es gelang ihm nicht, das alles klar zu durchdenken.
Was erwartete sie von ihm nach dieser eigenartigen Vorstellung im Wald? Dorfmiliz? Sie hatte Dorfmiliz gesagt. Sie behauptete, seine Familie sei eine Bande von Kriegsverbrechern, die Kriegsgefangene ermordet und dann auch noch ihren Vater umgebracht hatte. War sie noch ganz bei Trost? Sie hatte im Leybachhof herumgeschnüffelt. Und wer weiß, was sie sonst noch alles getan hatte, seit sie wieder hier war …
Sein Handy piepte, um anzuzeigen, dass schon wieder eine Nachricht eingegangen war. Er rief missmutig die Meldung auf. Die Nachricht war von seiner Mutter. Er drückte die Taste für die Mailbox und lauschte. Aber nach der Ansage kam keine Botschaft.
Er drückte die Rückruftaste. Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Lukas?«
»Ja, verdammt. Was ist denn los?«
»Wo bist du?«
»Unterwegs. Warum? Was gibt’s denn?«
»Du musst sofort kommen.«
»Warum? Wozu?«
»Wir müssen etwas Wichtiges besprechen. Weißt du, wo die Anja ist?«
»Wieso? Was ist mit ihr?«
»Hast du sie heute nicht gesehen?«
Die Stimme seiner Mutter klang ängstlich.
»Ja. Gerade eben. Aber warum denn?«
»Ist sie noch da? Kannst du sie mitbringen?«
Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Mitbringen?«, wiederholte er ratlos. »Kannst du mir bitte mal erklären, was los ist?«
»Kommt, so schnell ihr könnt. Wir warten auf euch.«
Euch? Sie wollten plötzlich mit Anja reden? Wieso denn das? Wollten sie ihr das mit dem Xaver beichten? Weil er es nicht getan hatte. Weil er es bisher einfach nicht fertiggebracht hatte, ihr zu sagen, was sein wahnsinniger Onkel getan hatte.
Es war ihm am letzten Montag einfach nicht über die Lippen gekommen. Der Schock über die Eröffnung vom Sonntag hatte ihm ja selbst noch in den Gliedern gesteckt. Xaver hatte schon einmal gemordet, und seine Eltern hatten ihn GEDECKT! So ein Irrsinn! Alois und Anna hatten die Leiche versteckt, um ihren Sohn zu schützen. Es war einfach nicht zu fassen. Seine eigenen Großeltern!
Spontan hatte er das Gefühl gehabt, dass Anja das am besten niemals erfahren durfte! Es beschämte ihn zwar. Aber wenn er ehrlich war, musste er
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