Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
die Wildwiese zu. Zwischen den Bäumen hindurch konnte sie ihn bereits erkennen. Als sie aus dem Wald heraustrat, kam er sofort auf sie zugerannt. Ohne ein Wort schloss er sie in die Arme und umarmte sie so fest, dass sie fast keine Luft bekam. »O Gott, o Gott, du lebst. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Sie befreite sich aus seiner Umarmung. »Tu das nie wieder! Versprichst du mir das?«
»Tu was nie wieder? Sag mal, spinnst du?«
»Ja«, rief er atemlos. »Seit gestern Nacht spinne ich komplett. Du glaubst ja nicht, was ich durchgemacht habe. Ich dachte, du erstickst hier gerade irgendwo im Unterholz.«
Sie schaute ihn halb verärgert, halb belustigt an. »Meinst du, ich bin zweimal so blöd, ohne Spray in den Wald zu gehen? Warum fährst du überhaupt hinter mir her, Lukas? Ich finde das ein wenig komisch.«
Er rückte von ihr ab.
»Nein«, sagte sie versöhnlich, »so habe ich das nicht gemeint. Aber warum hast du nicht angerufen? Ich habe hier zu tun.«
»Ich habe angerufen«, erwiderte er ärgerlich. »Du gehst ja entweder nicht ran, oder du hast keine Zeit zu reden. Du machst sogar ein Geheimnis daraus, wenn du hier arbeitest. Hast du eigentlich kein Wochenende?« Er sah sich um. »Was treibt dich denn ausgerechnet hierher?«
Sie ging zu ihm hin und hakte sich bei ihm unter. »Ich bin nun mal eine Waldfrau, das weißt du doch. Reg dich nicht auf, okay? So viel Aufmerksamkeit bin ich einfach nicht gewohnt.«
Er musterte sie unsicher. Sein Blick fiel auf ihren Notizblock. Ein argwöhnischer Zug spielte um seine Lippen. »Arbeitest du eigentlich auch irgendwann einmal nicht?«
»Sicher«, sagte sie. »Nachts.«
Er schwieg, noch immer verstimmt.
»Jetzt komm! Wenn wir schon hier sind, können wir ja unseren Waldspaziergang vom letzten Mal nachholen. Schau: Blauer Himmel. Schönes Wetter. Sollen wir?«
»Jetzt?«
»Sicher. Erzähl doch mal. Was willst du mit deinem Wald machen, jetzt, wo er dir gehört?«
»Mir?« Er schüttelte den Kopf. »Mir gehört hier gar nichts. Ich will meine Schulden loswerden und meiner Familie helfen. Auch dem Dorf, der Gemeinde. Faunried soll wieder das werden, was es einmal war. Ein Ort für die Seele, ein Dorf mit einem Wald dahinter, in dem Kinder die Natur erfahren können. So wie wir damals.«
Er machte eine ausladende Handbewegung. »Diese Wiese zum Beispiel. Man könnte hier ein paar Rehe einzäunen, damit die Kinder sie vom Hochsitz aus beobachten können.«
»Ein Rehgehege. Hier?« Anja schüttelte amüsiert den Kopf.
»Warum denn nicht? Oder eben etwas anderes. Kaninchen.«
»Okay. Keine Einzelheiten. Das Grundkonzept.«
»Mach dich nur lustig über mich. Deshalb sollst du mir ja helfen, mich beraten. Ich gebe ja zu, dass ich nichts von Waldwirtschaft verstehe. Darum geht es mir auch nicht. Ich will etwas ganz anderes.«
Anja sah ihn mitleidig an. Plötzlich erschien er ihr einfach nur liebenswert naiv. »Und was willst du?«
»Na ja, den Leybachhof zum Beispiel, den würde ich umbauen. Niemand von uns will ihn haben. Keiner will dort wohnen. Jetzt schon gar nicht, nach diesem Unglück. Also. Warum kein Lebkuchenhaus? Für die Kinder, die hier Ferien machen. Wie im Märchen. Am Ende eines Wipfelpfads. So stelle ich mir das vor. Und den Rest rühren wir nicht an. Wir überlassen alles der Natur, von hier bis Hinterweiher. Keine Holzwirtschaft. Nur ein paar Wege, damit die Leute sehen können, wie so ein richtiger Wald aussieht. Damit sie die Stille hören, die echte Waldluft riechen können. Deshalb gehen wir doch alle in den Wald, oder? Weil wir dort herkommen. Ist es nicht so?«
Anja sah ihn nur an. Lukas, den hübschen Lukas, mit dem sie geschlafen hatte. War er wirklich so naiv? Er sah hier einen Märchenwald? Aber er sprach schon weiter – mit zunehmender Begeisterung. »Manche Völker schauen aufs Meer, Anja, wenn sie die Sehnsucht überkommt, wenn sie Antworten auf die großen Fragen suchen. Andere blicken zum Himmel auf, zu den Sternen, ins All, was weiß ich. Aber wir, Anja, wir schauen in den Wald. So sind wir eben. Da kommen wir her, und da gehen wir immer wieder hin. Wie im Märchen. Wir verwandeln uns und kommen erlöst daraus hervor. Das verbindet uns doch, oder? Das spürst du doch auch, nicht wahr?«
Anja erwiderte nichts. Sie hatte auch gar nicht das Gefühl, dass Lukas zu ihr sprach. Sie spürte ihren Notizblock in der Hand. Sie dachte an Skrowkas Fotowand. An Johanna Ruschka. Dein Monster von Großmutter, sagte sie stumm zu sich
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