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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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hat sie kurz vor seinem Verschwinden gemacht. Zwei oder drei Tage vorher.«
    Sie schaute kurz sinnierend auf den Boden. Lukas verschränkte nervös die Arme.
    »Als ich vor zwei Wochen hier kartiert habe, wusste ich von dieser Aufzeichnung noch nichts. Aber als ich an der Stelle, wo das Brennnesselfeld gestanden hat, meine Bodenprobe entnommen habe, unterschied sie sich auffällig von den anderen. Ich dachte erst, ich hätte mich geirrt, denn schließlich hat uns ja hier Xaver überrascht und einen schönen Schreck eingejagt. Deshalb bin ich am nächsten Tag noch mal gekommen, um die Probe zu überprüfen. Da stand Xaver plötzlich mit dem Gewehr hinter mir.«
    Sie musterte Lukas, der sie mit düsterem Blick anstarrte.
    »Warum erzählst du mir das alles? Worauf willst du hinaus?«
    »Der Boden, auf dem du stehst, ist tiefgründig ausgehoben worden, Lukas. Was immer die Brennnesseln vor zwanzig Jahren ernährt hat – jemand hat es im Oktober 1979 herausgeholt und weggebracht.«
    »Ernährt? Wie ernährt?«
    »Brennnesseln brauchen Stickstoff. Der Boden hier enthält keine derartigen Mengen, die ein solches Brennnesselfeld versorgen könnten. Es muss damals eine außergewöhnliche Nährstoffquelle gegeben haben. Aus Verwesungsprozessen etwa. Vielleicht von toten Tieren. Oder Menschen.«
    Sie unterbrach sich und musterte ihn. Sein Gesicht spiegelte noch immer Unverständnis wider. Aber sein Ausdruck war ernst geworden. Er hob jetzt eine Hand, als wolle er ihre Worte zur Seite schieben wie eine lästige Mücke. »Anja«, sagte er beherrscht. »Kannst du dich bitte mal etwas klarer ausdrücken? Wovon redest du bitte?«
    »Der Boden redet. Ich übersetze nur. Das heißt, auf seine Art hat sich auch Xaver zu diesem Stück Wiese hier geäußert. Als ich das erste Mal an dieser Stelle erschienen bin, ist er sehr wütend geworden und hat versucht, mich zu vertreiben. Als ich das zweite Mal kam, wollte er mich erschießen. Jedenfalls habe ich eine gefühlte Ewigkeit in den Lauf seines Gewehrs geblickt, bevor er weggelaufen ist. Kurz darauf hat er Anna erschlagen und sich erhängt.«
    Lukas schüttelte unwirsch den Kopf. »Und jetzt glaubst du, dein Vater liegt hier? Wegen ein paar Brennnesseln?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, er musste sterben, weil er wissen wollte, warum sie hier wuchsen.«
    Lukas sah sie an. Er hob die Hand, um ihre Wange zu streicheln, aber sie wich vor ihm zurück.
    »Entschuldige, Anja, bei aller Liebe …«
    »Komm. Dort geht die Geschichte weiter.«
    »Welche Geschichte?«
    »Der Abtransport. Dieser Bodenaushub, der hier gemacht wurde, musste ja irgendwo hin. Dort vorne, wo du mich vorhin aus dem Wald hast herauskommen sehen, ist ein Wagen mit einer ziemlich schweren Last Richtung Greiner Bühl quer durch den Wald geschoben worden. Man kann die Fahrspur noch sehen.«
    Sie ging los. Lukas sah ihr unwillig nach. Aber nach einigem Zögern folgte er ihr kopfschüttelnd. Sie legte fast die halbe Strecke zum Geröllfeld zurück, bevor sie an der Blutampferspur innehielt.
    »Hier«, sagte sie und deutete auf die von roten Adern durchzogenen Blätter am Boden.
    »Was ist hier?«
    »Staunässe. Waldboden ist sehr empfindlich. Wenn kurzzeitig ein derart hoher Druck ausgeübt wird, verändert sich das Porenvolumen im Boden. Alles verändert sich. Und damit auch der Bewuchs. Schau: zwei fast parallele Streifen. Hier ist es Blutampfer. Dort drüben stehen Quellbinsen. Und das zieht sich vom Haingries bis zum Greiner Bühl. Es ist eine Wagenspur. Nur ein Mal genutzt. Aber die Natur hat ein langes Gedächtnis. Im Gegensatz zu uns.«
    Lukas verschränkte wieder die Arme. »Okay. Und weiter? Hier ist also ein Wagen mit Erde aus dem Haingries durchgerollt. Deshalb verstehe ich immer noch nicht, was das mit deinem Vater, mit Xaver oder überhaupt mit uns zu tun haben sollte.«
    Anja nahm ihren Rucksack vom Rücken, stellte ihn auf den Boden, öffnete ihn, holte die Blechdose heraus und reichte sie ihm.
    »Hier. Das habe ich in Xavers Zimmer gefunden. Mach auf.«
    Lukas war derart überrascht, dass er die naheliegende Frage, wieso Anja in Xavers Zimmer gewesen sein könnte, gar nicht stellte. Er nahm die Dose und öffnete sie.
    »Das war Xavers Schatz«, erklärte Anja. »Er hat ihn mir damals gezeigt. Ich habe als Achtjährige natürlich nicht begriffen, was das ist. Aber als ich in seinem Zimmer war, ist mir wieder eingefallen, dass er mir immer von seinem Schatz erzählt hat und wo er ihn

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