Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Holzplatten, an jeder Ecke mit einem Loch versehen, durch das eine Schraube mit Flügelmutter gesteckt war. Auf dem Zeitungspapier, in das die Presse eingewickelt gewesen war, stand: Pertini-Besuch bringt Staatskanzlei in Erklärungsnot.
Niedergeschlagen betrachtete sie die Hefte. Mit einem Mal wurde alles schwer und dunkel in ihr. Sie nahm ein Exemplar zur Hand, blätterte darin, überprüfte unwillkürlich, ob sie den taxonomischen Angaben, die ihr Vater eingetragen hatte, zustimmen würde. Tussilago farfara. Tulipa sylvestris. Waren Wildtulpen damals noch nicht geschützt? Dann stieß sie auf eine Seite, wo eine Kinderhand das Wort Glücksklee unter ein gepresstes und leicht schief eingeklebtes, vierblätteriges Kleeblatt geschrieben hatte. Am unteren Rand stand mit Bleistift eine Anmerkung ihres Vaters: Anja, 24. August 1978.
Sie brauchte einige Minuten, bis sie wieder klar sehen und denken konnte. Sie musste damit aufhören, dachte sie. Alles zurückpacken und den Raum wieder verschließen. Sie konnte diese Dinge nicht wegschaffen oder irgendwo begraben. Vielleicht war es doch am besten, wenn alles einfach hier in dieser Mansarde blieb. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. In Grunde war es ja ihr Erbe, dachte sie. Die Pflanzen. Die Natur. Der Wald. Das hatte sie von ihrem Vater behalten. Und das durfte sie nicht traurig stimmen. Diese Verbindung würde immer bestehen bleiben. Das kleine vierblätterige Kleeblatt und ihr kindliches Gekrakel darunter. Ihr Glücksklee. Sie zwang sich, die Seite so lange anzuschauen, bis es nicht mehr weh tat.
Sie griff nach dem letzten Heft des Stapels. Es waren vor allem Farne darin. War sie dabei gewesen, als er sie gesammelt hatte? Im Sommer 1979. Das Heft war nur zu zwei Dritteln gefüllt. Die Aufzeichnungen waren sehr viel umfangreicher als in den vorhergehenden Heften. Anja stutzte. Wieso ausgerechnet diese Pflanzen? Sie blätterte Seite um Seite um. Soweit sie erkennen konnte, hatte ihr Vater in diesem letzten Sommer vor allem schwefel- und stickstoffanzeigende Pflanzen gesammelt. An einer Stelle hatte er eine Quelle für einen Fachartikel vermerkt: besorgen – Ulrich/Khanna: Deposition von Luftverunreinigungen und ihre Auswirkungen in Waldökosystemen im Solling. War er ein früher Ökologe gewesen? Ein Warner vor dem Waldsterben? Konnte sie ihre Mutter danach fragen? Sie blätterte weiter. Es folgten nur noch drei beschriebene Seiten. Auf den beiden letzten Seiten klebten wieder gepresste Blätter, die mit Bleistiftnotizen versehen waren. Aber die drittletzte Seite war anders. Was hatte er denn da aufgezeichnet? Wie bei jeder Eintragung stand auch hier das Datum am unteren Rand: 19. August 1979. Es war ein Lageplan von Faunried. Das Gehöft unten links musste der Gollashof sein. Die Wiesen und der Leybachwald waren ebenfalls erfasst. Außerdem der Leybachhof südlich des Waldwegs, der von Faunried nach Hinterweiher führte. Ein Punkt war mit einem Kreuz markiert. Alter Fichtenbestand stand unter der Zeichnung. Und daneben, gefolgt von drei Fragezeichen: ungewöhnlich mächtiges Brennnessel feld (ca. 130 cm hoch) auf einer Fläche von ca. 5 x 6 Metern – Tiere?
Die Karte war grob gezeichnet. Aber sie war doch genau genug, um zu sehen, wo die auffällige Stelle sich befunden hatte. Alter Fichtenbestand? Fünf mal sechs Meter? Tiere? Es war Einschlag 25. Anja ließ das Heft sinken. Sie merkte, dass ihre Hände feucht wurden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wie in Trance erhob sie sich, legte alles, was sie gefunden hatte, sorgsam in die Kiste zurück, verschloss sie und wuchtete sie zur Tür. Erst dann fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Auto dabeihatte und die ganzen Unterlagen unmöglich mitnehmen konnte. Sie öffnete die Kiste wieder, nahm nur die Herbarienhefte, wickelte sie in die alten Zeitungen ein und verließ das Zimmer.
25
A ls Konrad Dallmann in Begleitung seines Vaters Heinbichlers Partykeller betrat, war sein erster Gedanke gewesen, wie viele triste Trinkställe in braunem Resopal in den siebziger Jahren in bayerischen Einfamilienhäusern wohl eingerichtet worden waren, bis den Leuten allmählich dämmerte, dass doch nun wirklich niemand Lust dazu hatte, den Wirtshausbesuch in den eigenen Keller zu verlegen.
Bier und Brezeln standen auf dem Tisch. Der greise Albrecht Gollas war bereits da. Heinbichler hatte ihn aus dem Altersheim in Weiden abgeholt. Sein Vater begrüßte ihn. Man hätte meinen können, sie hätten sich seit Kriegsende
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