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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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passte.
    Es war offensichtlich, dass den Raum seit Jahren niemand betreten hatte. Er war trocken und hell. Ein paar Spinnweben hingen unter dem alten Kippfenster, das noch mit einer alten Drahtglasscheibe versehen war, durch die stark gefiltertes Sonnenlicht auf die darunterstehenden Kartons fiel.
    Sie standen zweifach gestapelt in einer Reihe unter der Dachschräge. Rechts davon lehnten drei staubüberzogene lederne Reisekoffer mit großen Schnallen dagegen. Obenauf stand ein kleiner Schuhkarton. Anja hob den Deckel ab, entfernte das weiche Füllpapier und betrachtete die Gegenstände darin. Eine Armbanduhr mit abgetragenem, dunklem Lederarmband. Drei zusammengerollte Ledergürtel. Eine kleine, blaue Dose enthielt den Ehering ihrer Mutter. Wann hatte sie ihn abgelegt? In einer Phase, als sie vermutete, er habe sie einfach verlassen? Anja wartete, dass der Anblick des Rings und der leeren Stelle auf dem kleinen Samtkissen daneben irgendein Gefühl hervorrufen würde, aber es berührte sie jetzt nicht sonderlich. Wie um sich zu prüfen, nahm sie die Armbanduhr in die Hand und befühlte mit den Fingerspitzen das alte, brüchige Leder. Die Uhr war aus Gold, mit einem hellen Ziffernblatt und römischen Ziffern. Das Datum wechselte gerade zwischen dem neunten und zehnten Tag eines Monats. Sie lächelte. Ihr Vater war also ein Mensch gewesen, der seine Uhr zu Hause ließ, wenn er in Urlaub fuhr. Sie war am 9. August stehengeblieben, zwei Wochen vor seinem Verschwinden.
    Sie legte die Uhr zurück und verschloss den Karton wieder. Die erste größere Kiste, die sie nun öffnete, enthielt Fotoalben. Sie nahm sie heraus und legte sie zur Seite. Darunter befand sich ein Stapel alter Zeitungen. Ein kleines Lederetui lag obenauf. Als sie es öffnete, kam ein Kompass zum Vorschein. Sie stutzte. Er war ohne Kompass losgezogen! Dann war er damals auf keinen Fall zu einer größeren Wanderung aufgebrochen. Sie drehte das Instrument hin und her, nordete die Nadel, um zu prüfen, ob es noch funktionierte, und legte es dann auf den Fotoalben ab.
    Sie horchte erwartungsvoll in sich hinein, aber da war nur ein taubes, unbestimmbares Gefühl. Das war alles. Sie konnte klar denken. Ihre Sinne waren ungetrübt. Sie hörte die Vögel draußen im Garten. Sie roch die trockene, staubige Luft der Mansarde. Der Anblick dieser Gegenstände berührte sie nicht anders, als wenn sie in ihren eigenen Sachen von früher herumstöberte. Jedenfalls wähnte sie sich in dieser Illusion, bis sie den Stapel altes Zeitungspapier aus der Kiste hob, der aus ihr zunächst unerfindlichen Gründen dort gelandet war. Das Zeitungspapier war zur Verpackung von etwas benutzt worden. Ein dünner Faden war um den Packen gebunden. Sie musste nur leicht daran ziehen, und er zerriss. Während das Zeitungspapier zur Seite fiel und einen Stapel DIN-A4-Hefte enthüllte, fiel ihr eine Schlagzeile ins Auge: Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß: Ich trete immer leise auf. Sie überflog den Aufmacher und den Rest der Zeitungsseite. Weidener Tagblatt. 12. August 1979. Das Datum versetzte ihr jetzt doch einen Stich. Hatte ihr Vater diese Zeitung damals gekauft? War sie in dem Chaos der Abreise nach dem Unfall in einen der Koffer geraten und hatte später beim Aussortieren als Packpapier gedient? Der Wetterbericht am Fuß der Seite ließ unbegreiflicherweise einen Kloß in ihrer Kehle entstehen. Heiter bis wolkig. 22 bis 26 Grad. Am Spätnachmittag Schauerneigung. Sie faltete die Zeitungsseite zusammen und legte sie wieder in die Kiste. Ihre Hände zitterten ein wenig.
    Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und betrachtete argwöhnisch den Stapel Schulhefte. Warum hatte man die wohl aufgehoben? Ihr Vater war Biologielehrer gewesen. Aber er hatte doch wohl keine Schulhefte bei sich aufbewahrt? Und falls doch, hätte ihre Mutter sie damals gewiss aussortiert und weggeworfen oder sie zurück in die Schule gebracht.
    Aber es waren keine Schulhefte. Auf der ersten Seite, die sie aufschlug, war ein gepresstes, herbstlich gefärbtes Buchenblatt zu sehen. Sie blätterte weiter, von Seite zu Seite. Gepresste Gräser und Blätter wechselten sich ab, versehen mit handschriftlichen Notizen über Fundorte, Jahreszeiten, Umgebungsbeschreibungen und persönlichen Eintragungen, die manchmal gar nichts mit naturkundlichen Fragen zu tun hatten. Sie legte das erste Heft zur Seite und nahm sich erneut die Kiste vor. Ebenfalls in Zeitungspapier eingewickelt, stieß sie auf eine Presse: zwei

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