Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
von uns.«
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S ie nahm den ersten Zug zurück. Während der zweistündigen Fahrt blätterte sie immer wieder die Herbarienbücher durch und betrachtete lange die Skizze, die ihr Vater drei Tage vor seinem Verschwinden angefertigt hatte. Wenn das Brennnesselfeld tatsächlich so beschaffen gewesen war, wie er es beschrieben hatte, war es kein Wunder, dass es ihm aufgefallen war. Brusthoch, auf einer derartig großen Fläche. In einem Fichtenwald? Tiere?, hatte er danebengeschrieben. So hatte er sich den hohen Nährstoffgehalt im Boden, der dieses Brennnesselwachstum begünstigt haben musste, also erklärt. Aber wie sollte verendetes Wild derart im Waldboden eingelagert worden sein? Sie dachte an den fast mumifizierten Kuhkadaver, den sie vor einigen Tagen entdeckt hatte. Vielleicht so etwas?
Dann hatte sie in den alten Zeitungen gelesen, die als Packpapier gedient hatten. Die Meldungen waren wie Ritzen, durch die man in diesen letzten Sommer hineinschauen konnte, den sie als kleines Mädchen dort verbracht hatte. Die Fragmente aus internationalen und lokalen Meldungen ergaben einen diffusen Einblick in die Probleme und Nöte der Menschheit im Jahr 1979: Islamische Revolution im Iran; Revolution in Nicaragua; Flüchtlingsdrama in Vietnam; Mordanschlag auf Alexander Haig. Neben Titelblättern mit internationalen Schlagzeilen waren auch Seiten des Regional- und Lokalteils in die Kartons gelangt. Hier beherrschte die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß die Nachrichten. Und ein Staatsbesuch des damaligen italienischen Staatspräsidenten in Bayern.
Das Thema interessierte sie nicht im Geringsten, aber sie las sich dennoch kurzzeitig an den empörten Leserbriefen fest. Wenn sie ein Gradmesser waren, so hatte der Staatsbesuch von Sandro Pertini damals die Gemüter erheblich stärker bewegt als die große Weltpolitik.
Seit Tagen hört man in jeder Nachrichtensendung, dass Pertini seinen Staatsbesuch plant, wobei in jeder Sendung eine längere Meldung kommt, dass er auch das Grab seines Bruders privat besuchen will, der in Flossenbürg umgekommen sei usw. Der unbefangene Deutsche soll seine »antifaschistische Lektion« bekommen, ausgerechnet von Italien, dessen Arbeitslose wir durchfüttern.
Ein anderer Leser äußerte sich ähnlich.
Herr Strauß möge Herrn Pertini bitte fragen, wie es mit der Unmenschlichkeit gegenüber dem immer noch gefangen gehaltenen Major Reder steht. Ich möchte mal gerne erleben, wenn wir einen »Staatsgefangenen« aus Italien hier beherbergten, was das für ein Geschrei im Stiefel wäre. Und überhaupt müsste ja erst einmal geklärt werden, unter welchen Umständen Pertinis Bruder überhaupt umgekommen sein soll.
Die Leserbriefe glichen sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im Ton.
Strauß soll dem Präsidenten auch gleich italienische Schulen in Bayern angeboten haben, worauf der abwinkte, die italienischen Gastarbeiterkinder sollten in deutsche Schulen, damit sie integriert würden. Vielleicht dachte er auch: Wenn die Türken schon halb Berlin besetzt haben, warum sollen wir da zurückstehen. Bajuwaria ist ein schönes Land und nicht weit von Südtirol. Die Bayern sterben ja auch aus, womit er ganz recht hat, geh mal einer in München über die Straße. Diese Zustände werden dann mit »Europa« bekleistert.
Anja nahm ein anderes Blatt Packpapier. Einer alten Edeka-Anzeige waren Rindfleischpreise zu entnehmen, die ihr unglaublich niedrig erschienen. Es gab einen Bericht über Ernteausfälle. Im Kulturteil stand der Hinweis, dass die amerikanische Holocaust-Verfilmung zunächst nicht wiederholt würde, was ein Stadtrat öffentlich mit der Bemerkung kommentiert hatte, er begrüße diese Entscheidung nachdrücklich. Die pädagogische Wirkung des »Cornflakes-Melodrams« sei mehr als zweifelhaft.
Anja legte die Zeitung neben sich und schaute aus dem Fenster. Die Leserbriefe fand sie einerseits lustig, andererseits gruselig. Der Ton der Beiträge ließ wenig Deutungsspielraum zu, aus welchem politischen Lager die Leute stammten, die sich hier äußerten. Offenbar tiefschwarz mit leicht bräunlicher Tendenz. In dieser Gegend wohnten also Menschen, denen Franz Josef Strauß zu lasch gewesen war. Interessant. Und hier hatten ihre Eltern Urlaub gemacht?
Sie betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Nebelbänke lagen auf den Wiesen. So friedlich und still wirkte das alles, verzaubert und verwunschen, als würde im nächsten Moment ein rußgeschwärztes Allerleirauh aus einer hohlen Eiche
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