Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
hier? Siehst du nicht, dass du störst?«
»Komm raus«, sagte Rupert lapidar, drehte sich um, ging ein paar Schritte zur Tür und wartete dort. Lukas fixierte Anja und drehte die Augen zum Himmel, als wolle er sich für Rupert entschuldigen. Aber da war noch etwas anderes in seinem Blick. Lukas’ Mund war nur noch ein schmaler Strich. Er erhob sich. »Ich bin gleich zurück.«
Anja griff nach ihrer Gabel und spießte ein Stück Artischocke auf. Rupert war bereits nach draußen gegangen. Lukas’ breiter Rücken verharrte noch einen Augenblick an der Tür, als zögere er. Dann schlug er energisch die Windfangdecke beiseite und verschwand. Anja reckte den Hals. Von hier aus konnte sie die beiden dort draußen nicht sehen. Sie erhob sich und rückte näher ans Fenster heran. Rupert hatte seinen Wagen mitten auf der Straße geparkt. Woher wusste er, dass Lukas hier war? Zufall? Hatte er ihn gesucht? Und was besprachen sie da so Dringendes? Rupert redete auf seinen Bruder ein. Lukas hatte die Hände in den Taschen und hörte zu. Er stand aufrecht da. Abweisend. Herrisch. Er hielt sich sehr gerade, fast unnatürlich. Plötzlich machte Rupert eine brüske Ausweichbewegung. Anja stockte der Atem. Hatte sie das richtig gesehen? Hatte Lukas ihn geschlagen? Rupert war ein wenig zurückgewichen. Was ging zwischen ihnen vor? Lukas war zwar kräftig und größer als sein Bruder. Aber Ruperts Körperbau war gedrungen, bullig. Schon bei der ersten Begegnung im Wald vor einer Woche hatte Anja ihn als bedrohlich, ja als aggressiv empfunden. Lukas hätte keine Chance gegen ihn, davon war sie überzeugt. Oder täuschte sie sich? Lukas ging einen Schritt auf Rupert zu, streckte die Hand aus und klopfte ihm drohend auf den Brustkorb. Diesmal wich Rupert nicht zurück. Er hielt nur den Kopf leicht gesenkt und starrte seinen Bruder hasserfüllt an, als würde er jeden Augenblick zuschlagen. Doch nichts geschah. Lukas schaute auf ihn herab. Sie wechselten noch ein paar Sätze. Dann wandte Lukas sich abrupt ab und ließ Rupert einfach stehen.
Anja rutschte auf ihren Platz zurück und begann, die bereits lauwarme Pizza in Stücke zu schneiden. Lukas nahm schweigend Platz. Er griff nach seinem Weinglas, hob es an den Mund und leerte es in einem Zug. Sie sah, dass seine Hand leicht zitterte. Sein Gesichtsausdruck indessen war ruhig. Er setzte das Glas ab, schaute sie an, setzte eine Miene auf, als habe er nicht den Schimmer einer Ahnung, was sein Bruder soeben von ihm gewollt hatte, und sagte nur: »Familie.« Und dann: »Schmeckt’s?«
27
S ie konnte nicht schlafen. Die Uhr hatte zehn geschlagen, als sie zu Bett gegangen war. Jetzt schlug es elf, und sie war noch immer hellwach. Sie hatte ihre Pizza gegessen und sich schnell verabschiedet, denn Lukas’ Gesellschaft war nach dem Zwischenfall mit seinem Bruder alles andere als angenehm gewesen. Er hatte versucht, an die Plauderei von vorher anzuknüpfen, doch Anja hatte gespürt, dass er innerlich kochte. Hätte sie ihn fragen sollen, was vorgefallen war? Sie hatte es nicht getan, und er hatte kein Wort darüber verloren.
»Lass uns doch die Tage noch einmal in den Leybachwald gehen«, hatte er am Schluss gesagt. »Bitte, tu mir den Gefallen.«
Sie war eingeknickt. Nicht weil sie Lust dazu hatte, sondern weil sie nach Hause wollte. Und jetzt lag sie hier und fand keinen Schlaf. Es war sinnlos. Sie kannte das. Sie würde Stunden wach liegen, wenn sie nicht noch einmal an die Luft ging. Außerdem plagte sie Durst. Ob sie irgendwo etwas trinken sollte? Würde ein weiteres Bier vielleicht helfen?
Der Marktplatz lag verlassen da. Sogar die letzten geparkten Autos waren verschwunden. Sowohl die Pizzeria als auch das Chinarestaurant waren geschlossen. Es gab nur einen Ort, der um diese Zeit noch geöffnet war. Das Wirtshaus lag in der Bachgasse. Sie wählte nicht den direkten Weg, denn der hätte sie in zwei Minuten ans Ziel geführt. Stattdessen folgte sie der Hauptstraße in einem großen Bogen um den Ort herum und kreuzte dann durch kleine Seitenstraßen. Der Himmel war klar. Die Nachtluft roch nach Herbst, und sie vermeinte darin schon die ersten hauchfeinen Duftspuren von Winter zu riechen. Sie wunderte sich einige Augenblicke lang darüber, wie viele Nuancen man mit dem relativ rudimentären menschlichen Geruchssinn wahrnehmen konnte. Was für ein Feuerwerk von Sinneseindrücken mochte solch ein Nachtspaziergang einer Hundenase bieten oder einem Reh im Wald? Der Gedanke erinnerte sie
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