Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Sommer, den sie hier verbracht hatte. Sie sah es ganz deutlich vor sich. Der Rücken seiner grauen Filzjacke erschien vor ihrem geistigen Auge, die Jacke mit den aufgenähten Ellbogenstücken. Sie waren durch diesen Flur geschlichen, so wie sie es jetzt tat, vorsichtig, nach allen Seiten lauschend, ob jemand sie hören, sie entdecken konnte. Er war vorausgegangen, leicht gebückt wie ein Jäger auf der Pirsch, manchmal mahnend zu ihr hinschauend, ob sie sich ebenso lautlos bewegte wie er.
Anjas Augen irrten nervös durch den Flur und über die Gegenstände hinweg, die dort herumstanden oder gegen die Wand gestapelt waren, damit man überhaupt noch durchkam. Hatte die Polizei dieses Durcheinander angerichtet? Es erschien ihr unwahrscheinlich. Sie hätten vielleicht ein paar Schränke und Schubladen durchwühlt, aber nicht so. Es sah vielmehr so aus, als habe man bereits begonnen, zu entrümpeln.
Ein paar Briefe, die hinter dem Flurspiegel steckten, erregten ihre Aufmerksamkeit. Ein Umschlag kam ihr bekannt vor. Sie zog ihn heraus. Forstamt Waldmünchen – Ihr Partner im Wald stand deutlich lesbar neben dem Portoaufdruck. Ebenso das Datum. 16. April 1999. Der Brief war ungeöffnet, aber Anja wusste auch so, was in dem Schreiben stand, denn sie selbst hatte ja noch vor ein paar Tagen im Büro neuere Benachrichtigungen dieser Art durch die Frankiermaschine gejagt. Sie riss den Umschlag auf, um sicherzugehen.
Hiermit erstatten wir Ihnen Anzeige, dass auf Ihrer Waldfläche zwecks Standortkartierung Bodenprofilerfassungen durchzuführen sind. In Ermangelung eines begründeten Widerspruchs Ihrerseits werden die dafür notwendigen Arbeiten im Zeitraum September/Oktober 1999 durchgeführt. Den genauen Termin können Sie ab dem 15. Juli 1999 unter der unten angegebenen Rufnummer erfragen.
Es folgten eine Rechtsbehelfsbelehrung und die Adresse der Forstverwaltung.
Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und trägt daher keine Unterschrift.
Sie zog die anderen Briefe heraus. Ein Schreiben vom Landratsamt in Weiden. Ein Kontoauszug. Eine Werbedrucksache vom SOS-Kinderdorf. Keiner der Briefe war geöffnet worden.
Sie steckte die Briefe wieder hinter den Spiegel, ging zur Küchentür, öffnete sie behutsam und schaute durch den Spalt. Dann durchquerte sie den Raum bis zu der Treppe, die in den ersten Stock führte.
Einen Moment lang hielt sie am Fuß der Treppe inne und sah sich verstört um. Was für ein schmutziges Chaos! Und doch erkannte sie das alles auf unbegreifliche Weise wieder. Sie kannte dieses Haus.
Als sie die ersten Stufen erklommen hatte, roch es anders. Nach Krankenhaus. Nach Desinfektionsmittel. Sie hielt erneut inne, als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte. Der rätschende Warnruf eines Eichelhähers hallte draußen wider. Sonst war alles still.
Drei geschlossene Türen säumten den Flur. Sie wusste selbst nicht, wie es geschah, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit wusste sie, dass sie auf die mittlere zugehen musste, um den Raum zu betreten, in den Xaver sie damals geführt hatte.
Mit einem leisen Knarren schwang die Tür nach innen auf und gab den Blick auf ein weitgehend leeres Zimmer frei. Decke und Wände waren vollständig mit dunkel lackiertem Kiefernholz verschalt. Ein schmales Bett stand an der Außenwand unter dem Fenster. Links von ihr stand ein schwerer Eichenschrank und an der gegenüberliegenden Wand ein abgewetzter Sessel neben einem kleinen Porzellanwaschbecken, das unter einem von Grünspan überzogenen Wasserhahn in der Zimmerecke hing.
Sie war mit ihm in diesem Zimmer gewesen. Sie war sich ganz sicher. Aber warum? Ratlos sah sie sich um und versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. Es war heiß gewesen. Sie hatten in der Küche unten etwas getrunken. Und dann waren sie hier heraufgekommen. Sie stutzte. Sie war mit Xaver Leybach allein hier oben gewesen? In seinem Zimmer? Unbehagen beschlich sie. Ein leises, dumpfes Pochen begann in ihrem Kopf. Sie begann zu rechnen. Was hatte in der Todesanzeige gestanden? Geboren 1938. Xaver war einundvierzig Jahre alt gewesen, als er hier mit ihr »gespielt« hatte! Sie griff sich an den Kopf, als könne sie dadurch weitere Erinnerungen herauspressen, die vielleicht noch tiefer verschüttet waren als all die anderen. Das Pochen in ihrem Kopf wurde stärker. Sie wollte sich setzen, aber das Bett kam ihr plötzlich widerlich vor. Sie ließ sich auf dem Sessel in der Ecke nieder und sah sich verstört in diesem Zimmer um. Hatte Xaver
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