Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Eigentlich hatte sie genug von diesem Hof, aber würde sie noch einmal Gelegenheit haben, alleine hierherzukommen?
Die Stalltür war unverschlossen. Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie Kühltruhen, die die Wände säumten. Sie ging tiefer in den Stall hinein und gelangte an die Stelle, wo Anna Leybach gelegen haben musste. Es sah unwirklich aus. Kreidestriche auf dem Zementboden, welche die Lage eines Körpers umrissen, waren noch zu sehen, ebenso wie ein unregelmäßiger, etwa regenschirmgroßer dunkler Fleck an der Stelle, wo sich ihr Kopf befunden haben musste.
Anja musterte die Rückwand des Stalls, an dem ein schiefes, altes Metallregal lehnte. Ein Fuß war weggebrochen, so dass es eingeknickt war. Ein paar Plastikbehälter, die sich darauf befunden hatten, waren auf den Boden gefallen. Sie ging zu einer der Kühltruhen und schaute hinein. Sie war leer und stark angerostet. Als Nächstes versuchte sie, die Etiketten auf den heruntergefallenen Plastikbehältern zu entziffern, was ihr mit etwas Mühe gelang. Aber die Bezeichnungen sagten ihr nichts: Sugocell. Supralan. Polyethylenglykol. Sie löste einige der Etiketten ab, die teilweise zerrissen, teilweise einfach von den Behältern abfielen. Wozu auch immer diese Chemikalien einmal gedient hatten, es musste lange her sein, dass sie benutzt worden waren. Alle Behälter waren leer. Der ganze Stall sah aus, als habe ihn schon lange niemand mehr genutzt. Wozu die vielen Kühltruhen? War hier früher in größerem Umfang geschlachtet worden?
In einer Dreiviertelstunde begann die Trauerfeier für Anna und Xaver Leybach. Sie hätte ausreichend Zeit, rechtzeitig dort zu sein. Aber die Eindrücke der letzten Stunde machten ihr zu schaffen. Was war dies für ein Haus? Was für Menschen hatten hier gelebt? Sie ging über den Vorplatz, setzte sich am Waldrand hin und betrachtete den Leybachhof. Der Wind rauschte. Die Luft war klar. Der Hof lag still vor ihr. Die Worte von Kommissar Gerlach kamen ihr in den Sinn: Er hat sie in den Stall geschleift und dort erschlagen. Warum? Warum dort? Warum so?
Sie holte das Album hervor und blätterte darin. Es waren nur wenige Fotos. Xaver als Zehnjähriger mit der kleinen Waltraud auf dem Arm. Ein paar Gruppenfotos der ganzen Familie. Das war alles. Sie erhob sich, verstaute das Album wieder in ihrem Rucksack und trat den Rückweg zu ihrem Wagen an.
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A ls sie das Ortsschild von Kleinbruck passierte, war es zehn vor zwei. Sie hatte keine Schwierigkeit, den Friedhof zu finden, denn an schwarz gekleideten Trauergästen, die dorthin unterwegs waren, gab es keinen Mangel. Der Parkplatz war längst überfüllt, so dass Anja erst zweihundert Meter weiter eine freie Stelle am Straßenrand fand. Als sie vor der Kirche eintraf, läutete bereits eine einzige Glocke. Sie wollte sich im Hintergrund halten und stieg deshalb nicht wie die restlichen Trauergäste die Haupttreppe zum Kirchenvorplatz hinauf, sondern ging in einem größeren Bogen um die Rückseite der Kirche herum auf den danebenliegenden Friedhof.
Kurz darauf stand sie vor einem ausgehobenen Grab. Wurden heute nicht zwei Menschen beerdigt? Sie spazierte zwischen den Gräberreihen entlang, bis sie an die Mauer stieß, die den Friedhof von den umliegenden Feldern abgrenzte. So würde man das also handhaben, dachte sie und betrachtete den einfachen Holzsarg, der in einem durch Thuja eingehegten Areal jenseits der Friedhofsmauer neben einem Erdaushub auf zwei Holzböcken stand. Sie dachte an Lukas’ plötzlichen Aufbruch im Café von Hinterweiher vor wenigen Tagen. Waren zunächst vielleicht zwei Begräbnistermine erwogen worden? Es handelte sich zwar um Mutter und Sohn, aber der Sohn war nun mal in den letzten Stunden seines Lebens zum doppelten Todsünder geworden, den man wohl kaum geweihter Erde anvertrauen würde. Bestimmt war darüber nachgedacht worden, Anna Leybach mit allen katholischen Riten und Würden zu beerdigen und Xaver ohne großes Aufhebens einfach irgendwo zu verscharren. Allerdings war der Todsünder ein Sonderling gewesen, ein nicht ganz zurechnungsfähiger, seelisch kranker Mensch, der der göttlichen Gnade bestimmt dringender bedurfte als die untadelige Mutter, der die Erlösung nach kirchlichem Ermessen so gut wie gewiss war.
Welche Optionen die dafür Zuständigen auch immer durchgespielt haben mochten – das Ergebnis stand jetzt vor ihr. Annas blumengeschmückter Sarg war gewiss in der Kirche aufgebahrt, während hier,
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