Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
ihr hier oben etwas angetan?
Sie schloss die Augen in der Hoffnung, die vagen Bilder von damals heraufzubeschwören. Ein Schatz! Er hatte immer von einem Schatz geredet. Welches Kind hätte keinen Schatz gehabt? Aber Xaver war kein Kind gewesen. Oder doch? Er hatte das Bewusstsein eines Jungen gehabt. Hatte er sie hier heraufgelockt? Müsste sie sich nicht daran erinnern, wie dieses »Schatzzeigen« im Einzelnen verlaufen war? Was war in diesem Zimmer geschehen? Hatte Xaver sich an ihr vergangen, und hatte sie das derart verdrängt, dass sich keine Spur davon in ihrem Bewusstsein wiederfand? War dies eine Erklärung für sein Verhalten? Hatte er möglicherweise gefürchtet, sie sei zurückgekommen, um ihn zu bestrafen? Denn wenn ES wirklich geschehen war, so würde er es gewiss nicht vergessen haben.
Und ihr Vater!
Anja spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. War das eine Erklärung? Ein Motiv? Wie aus dem Nichts entstanden Szenen vor ihrem inneren Auge, huschten vorüber wie Filmausschnitte im Zeitraffer. War sie hier oben vergewaltigt worden? Oder hatte Xaver es versucht? War ihr Vater eingeschritten, und war es in der Folge zu einer Eskalation gekommen?
Undenkbar, dass sie daran keinerlei Erinnerung haben sollte. Sie öffnete die Augen wieder. Das Bett. Ihre Kehle zog sich zusammen. Hier war etwas geschehen! Sie schloss erneut die Augen. Aber es gelang ihr nicht, eine Erinnerung daran heraufzubeschwören. Sie lauschte auf die Geräusche des Waldes, sog die Luft ein und hoffte, dass einer der darin enthaltenen Gerüche ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen würde. Aber es war vergeblich. Da war ein Loch in ihrem Bewusstsein. Eine leere Stelle. Oder war selbst das Einbildung?
Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und erhob sich. Das Zimmer war ihr mit einem Mal unerträglich. Sie trat in den Flur hinaus, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Sie wollte so rasch wie möglich weg von hier, aber die Neugier auf die anderen beiden Zimmer war größer.
Das linke stand voller Gerümpel und war offenbar seit langer Zeit als Abstellkammer benutzt worden. Anja untersuchte es nicht länger. Der andere Raum erzählte eine lange Leidensgeschichte. Anja betrachtete einige Minuten lang das durchgelegene Bett, die von Schweißflecken übersäte Matratze, die vergilbten, zerknautschten Kissen, die zum Teil aus den schwarzen Mülltüten herausquollen. Ein ganzes Arsenal von Medikamentenpackungen und braunen Glasfläschchen füllte drei übereinandergestapelte Schuhkartons. Der Stiel einer Bettpfanne ragte unter dem Bett hervor. Woher der scharfe Desinfektionsgeruch rührte, konnte sie nicht feststellen, aber sie spürte wenig Neigung, diese Stätte des Siechtums noch eingehender zu untersuchen. Sie sah auf die Uhr. Es war fast ein Uhr.
Sie wollte den Raum gerade verlassen, als ein Gegenstand ihre Aufmerksamkeit erregte, der aus einem der drei Plastikmüllsäcke herausragte. Es war ein Fotoalbum. Sie zog es hervor und begann darin zu blättern. Wer warf denn so etwas weg? Die Vorsatzseiten waren ausgerissen. Sie blätterte eine leere Seite um, aus der wahrscheinlich Aufnahmen herausgefallen waren, denn es waren noch Schlitze im Papier vorhanden. Das erste Bild zeigte den Leybachhof. Die Ränder der alten Schwarzweißfotografie waren gezackt. In Sütterlinschrift hatte jemand Unser Heim – magst ruhig sein daruntergeschrieben. Auf den nächsten Bildern war ein junges Paar zu sehen. Die Frau sah blendend schön aus. Sie war blond, ihre großen dunklen Augen waren stolz auf den Betrachter gerichtet. Obwohl das Foto schwarzweiß war, konnte man sehen, dass ihre schöne Haut vom Sommer gebräunt war. Sie trug ein einfaches Kleid, aber ihre Haltung war beeindruckend. Die schlanken Unterarme lagen frei und hielten den Arm des Mannes fest, der ihre Taille umfasst hielt. Der Mann neben ihr blickte mit ernstem Blick in die Kamera. Alois und Anna stand unter dem Foto. 1948.
Anja schaute konsterniert auf den Abfallsack, in dem das Album gelegen hatte. Irgendeine nach Alkohol riechende Flüssigkeit war darin ausgelaufen, und die Rückseite des Albumeinbands hatte sich bereits damit vollgesogen. Kurz entschlossen steckte sie es ein und verließ den Raum.
Sie ging die Treppe hinab in die Küche, durchquerte den Flur, stand noch einen Moment lang unschlüssig da und verließ schließlich das Haus. Doch als sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte, war es plötzlich die Stalltür, die ihren Blick magisch anzog.
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