Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
jenseits der Friedhofsmauer, ein zweiter, schmuckloser Holzsarg neben einem Loch in der Erde drauf wartete, in nicht geweihtem Boden beigesetzt zu werden.
Anja bereute es jetzt, keine Blumen zu haben. Sie ging rasch über die Straße und kaufte einen kleinen Strauß weißer Rosen. Sie wollte nicht auffallen, daher legte sie sie rasch auf dem abseitsstehenden Sarg ab und machte sich wieder auf den Weg zum Kircheneingang.
Dort hatte sich ein Spalier gebildet. Anja trat näher und schaute durch die Wartenden hindurch in die kleine Gasse. Sie erkannte Lukas und Franz Gollas, die einen alten Mann im Rollstuhl vor sich herschoben. Hinter ihnen schritten Waltraud und Rupert einher. Rupert blickte starr vor sich hin zur Erde und achtete nicht auf seine Umgebung. Ihm folgte das kleine blonde Mädchen, das Anja am Tag des Unglücks die Haustür geöffnet hatte. Es hielt die Hand einer hochschwangeren, durch Trauerkleidung weitgehend verhüllten Frau. Das musste Ruperts Ehefrau sein, vermutete sie. Und der Greis im Rollstuhl? War das vielleicht Xavers Vater, Alois Leybach? Hatte Grossreither nicht gesagt, der sei verschwunden?
Unter den nachfolgenden Personen, vor allem alte Männer, befand sich der Polizist, der sie verhört hatte. Er begleitete einen ältern Herrn, der am Stock ging. Anja wich unwillkürlich ein wenig zurück. Warum war Dallmann wohl hier? Kannte er die Familie? Oder gehörte sich das so für einen Kriminalbeamten in dieser Gegend? Sie hielt nach Gerlach Ausschau. Aber der war nirgendwo zu sehen.
Das Spalier begann sich zu schließen. Anja folgte den anderen in die überfüllte Kirche hinein. Vereinzelt war noch ein Platz frei, aber sie zog es vor, seitlich an der Wand stehen zu bleiben und das Geschehen von dort zu verfolgen. Sie schien dennoch aufzufallen. Manche Blicke drückten Verwunderung oder Neugier aus, andere waren eindeutig misstrauisch und abweisend. Anja beschloss, nach der Predigt sofort nach Waldmünchen zurückzufahren, von Minute zu Minute wurde ihre Stimmung düsterer. Kurz vor Beginn der Messe entdeckte sie Grossreither, der nur wenig Meter von ihr entfernt neben einem massigen, grauhaarigen Alten saß, von dem sie nur den Rücken sehen konnte. Die beiden unterhielten sich leise. Sollte Grossreither sich umsehen, stünde sie direkt in seinem Blickfeld. Aber das war nicht zu ändern. Sie hatte damit rechnen müssen, dass er sie hier sah.
Die Zeremonie begann. Es war fast ausschließlich von Gott die Rede. Ein mit den Gepflogenheiten nicht Vertrauter hätte vermuten müssen, nicht Anna Leybach sei gestorben, sondern ihr Schöpfer. Wer war sie gewesen?, fragte sich Anja und dachte an das Foto der außergewöhnlich schönen Frau, das sie in dem weggeworfenen Album gesehen hatte. Wie hatte sie ihre Lebenszeit zugebracht? War sie großherzig und milde gewesen, oder kleingeistig und engstirnig? Hatte sie die Menschheit durch ihre Existenz in irgendeiner Form bereichert? Hatte sie mit ihrem Leben vielleicht eine ungelöste Frage beantwortet? Oder war durch ihr Dasein eine neue Frage gestellt worden? Dass Gottvater allmächtig und gnädig und der Mensch im Allgemeinen sündig und verkommen war, war ja hinreichend bekannt. Aber was wusste man über diese alte Frau, die in einer halben Stunde nach einer über achtzigjährigen Existenz verschwunden sein würde? Gehörte es sich nicht, wenigstens ein paar Worte über dieses Leben zu verlieren?
Geboren 1918. Anja rechnete. Bei Xavers Geburt war sie also erst zwanzig Jahre alt gewesen. Und Waltraud? War sie während des Krieges oder erst danach geboren worden? War sie ein Fronturlaubskind gewesen wie ihre eigene Mutter? Wie ihre eigenen Eltern?
Anjas Aufmerksamkeit wanderte zu dem Greis im Rollstuhl im Mittelgang vor dem Altar. Sein kahler, von weißgrauen Flauminseln bedeckter Hinterkopf ragte über der Rollstuhllehne auf. War das Alois Leybach? War er unerwarteterweise doch wieder aufgetaucht, um dem Begräbnis von Frau und Kind beizuwohnen? Plötzlich bemerkte sie, dass Lukas sie entdeckt hatte und verstohlen zu ihr hinschaute. Sie erwiderte seinen Blick für einen flüchtigen Moment, lange genug, um zu bemerken, dass ihr Blickwechsel auch von anderen registriert wurde. Sie sah sich unsicher um, musterte die Gesichter in ihrer Umgebung. Ein seltsames Hin und Her von Blicken schien um sie herum im Gang zu sein. Sie sah zu Boden.
Was für Menschen lebten hier eigentlich? Das unheimliche Gefühl, das sie in Xavers Zimmer überkommen hatte, kroch
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