Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
halb zwölf hörte sie Grossreither die Treppe herunterkommen. Kurz darauf scharrte der Anlasser, und sie sah durchs Fenster, wie der grüne Audi durch die Einfahrt rollte. Sie wartete noch zehn Minuten, um sicherzugehen. Dann brach sie auf. Ihr VW-Bus war um die Ecke geparkt. Sie griff in ihre Jackentasche und bekam den Autoschlüssel zu fassen. Wie viel Zeit hatte sie? Zwei gute Stunden? Sie stieg in den Wagen und fuhr los. Sie schaltete rasch und beschleunigte ungeduldig. Der Wagen schoss auf der leeren Landstraße durch den stillen Wald dahin. Ihr VW-Bus war auffällig. Aber wer sollte hier schon auf sie achten? Die paar Menschen, die sie persönlich kannten, waren im Moment beschäftigt.
Der Abzweig nach Hinterweiher lag hinter der nächsten Kurve. Sie schaltete herunter, drehte das Steuer herum und beschleunigte dann wieder so stark, dass sie den Waldweg, der zur Schranke führte, fast verpasst hätte. Sie bremste scharf, bog in den Wald ein und rollte wegen der vielen Schlaglöcher zwangsweise in wenig mehr als Schritttempo die letzten dreihundert Meter bis zur Schranke. Die Reifenspuren von ihrem letzten Besuch waren noch zu sehen, schmale, schwarze Abdrücke, in denen glänzend Regenwasser stand, das auf dem eingedrückten Waldboden nicht abfließen konnte. Sie betrachtete einen Moment lang versonnen die dunklen Pfützen.
Dann drehte sie sich um und holte ihr Gewehr aus der Klappe hinter den Sitzen hervor. Sie öffnete die Tür, schulterte ihren Rucksack, befühlte ihre Brusttasche, um sicherzugehen, dass sie ihr Asthmaspray bei sich hatte, und schlug die Richtung zum Leybachhof ein. Sie ging querfeldein, um die Strecke abzukürzen. Ihre Beinwunde zog ein wenig, je nachdem, wie sie auftrat, aber Schmerzen spürte sie keine. Nach weniger als zehn Minuten schimmerten die Schieferdächer der drei Hofgebäude durch die Bäume hindurch. Sie blieb stehen und lauschte. Warum schlug der Hund nicht an? Vorsichtig ging sie weiter, schlitterte den abschüssigen Hang hinunter und kam etwa zehn Meter vor dem Vorplatz zum Stehen. Sie wartete einige Sekunden. Aber da war kein Gebell. Nichts. Sie entsicherte das Gewehr, schritt vorsichtig auf den von Haupthaus und Stall begrenzten Vorplatz zu und betrachtete die heruntergekommenen Gebäude. Die schmutzigen Fassaden schauten schweigend auf sie hinab. Sie musterte die Fenster, die Eingangstür und die verdreckten Fenster des Schuppens daneben.
»Hallo!«, rief sie, obwohl sie schon jetzt davon überzeugt war, dass sie hier alleine war. »HALLO!«
Sie lauschte nervös in die Stille. Wo war der Hund? Und was wollte sie eigentlich mit ihrem Gewehr anfangen, falls er sie anfallen sollte? Sie konnte einen Hofhund, der sein Revier bewachte, doch nicht einfach abknallen.
Sie sicherte die Waffe und schulterte sie so, dass sie wenigstens nicht von ihr behindert wurde, falls sie schnell zurückweichen musste. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte an der Bretterwand des Stalls entlang, stets bereit, im Notfall loszuspurten, falls das Tier plötzlich auftauchen sollte. Aber alles blieb ruhig. Auch hinter dem Stall war keine Spur des Hofhundes zu entdecken. Nur ein Haufen frisch aufgeworfener Erde war dort zu sehen. Sie ging daran vorbei und erreichte einen offen stehenden Hundezwinger. Er war leer. Dann entdeckte sie eine herumliegende Kette und eine Leine, die daran festgebunden war. Sie verfolgte die Leine bis zu ihrem Ende. Ein zerfetztes Lederhalsband lag eingetreten im Dreck. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihr klarwurde, was die dunklen Flecken auf dem zerfetzten Leder bedeuten mussten. Sie kehrte zu dem Erdhügel hinter dem Stall zurück und schob mit ihren Stiefeln hie und da etwas Erde zur Seite. Sollte sie eine Schaufel suchen und nachschauen, ob dort wirklich der Hund verscharrt war? Sie entschied sich dagegen, machte kehrt und hielt direkt auf die Haustür zu. Sie klopfte, wartete, klopfte heftiger. Dann drückte sie die Klinke.
Die Tür war unverschlossen und schwang ohne den geringsten Widerstand zurück. Schemenhaft konnte sie ein paar Gegenstände im Flur und am Ende eine Holztür mit Glasfenstern ausmachen, durch die etwas Licht hereinfiel. Sie machte zwei Schritte in den Flur hinein. Überall standen große, schwarze Plastiksäcke. Plötzlich hielt sie erschrocken inne. Was war das? Sie atmete zweimal tief ein. Dieser Geruch … Sie kannte diesen Geruch! Sie war schon einmal in diesem Haus gewesen! Mit Xaver! Hier waren sie damals hereingeschlichen. Im letzten
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