Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
Sie?«
    »Gerede?«, fragte Anja. »Was für ein Gerede?«
    Grossreither senkte die Stimme. »Na ja, es ist ja bekannt, dass die Gollas seit Jahren versuchen, den Leybachwald zu übernehmen und zu bewirtschaften. Aber der Xaver war ums Verrecken nicht dazu zu bewegen, dass in dem Wald irgendetwas gemacht wird. Der hat diesen Forst regelrecht bewacht. Wie ein scharfer Hund. Seit geraumer Zeit ist gar keiner mehr dort hineingegangen, weil der Xaver jeden anraunzte, der sich dort blicken ließ. Sie haben es ja am eigenen Leib erfahren.«
    »Ja. Und niemand hat mich davor gewarnt.«
    Grossreither verzog bekümmert das Gesicht. »Ja, richtig. Aber dass es inzwischen so schlimm mit ihm war, wusste ich ja nicht. Manche behaupten jetzt, der Unglücksfall käme denen nur recht. Die rackern sich mit der Landwirtschaft ab, die kaum noch etwas abwirft. Waltraud Gollas schuftet jeden Tag acht Stunden für einen Hungerlohn bei Aldi an der Kasse. Und das alles nur, weil ihr damischer Bruder einen Dachschaden hat. Der lässt einen wertvollen Wald einfach verrotten. Was man daraus alles machen könnte! Ferienwohnungen mit einem Waldlehrpfad hinten dran oder so etwas. Förderung gibt’s dafür ja auch noch. Aber natürlich nicht, solange ein depperter Rübezahl darin herumspaziert und die Leute erschreckt. Sie haben ihn ja gesehen mit seinem geladenen Drilling unterm Arm. Na ja, jedenfalls ist es für die Familie im Grunde eine glückliche Fügung, dass es damit vorbei ist.«
    Anja blinzelte ungläubig. »Wollen Sie damit sagen, die Leute glauben, dass …«
    Grossreither winkte ab. »Ach, die Leute glauben, was sie wollen. Aber eines ist sicher: Je unerklärlicher ein Vorfall, desto verrückter die Gerüchte, die in Umlauf kommen. Wir sind hier eine kleine Gemeinde. Hier spricht sich alles herum. Ich weiß noch gut, was damals los war, als das mit Ihrem Vater passiert ist. Bei allem Respekt, aber Sie glauben ja nicht, wie so ein ungeklärter Unfall das Zusammenleben vergiften kann. Das will ich nicht noch einmal erleben.«
    »Sicher«, antwortete sie beherrscht. »Ich verstehe.«
    »Gut. Dann sind Sie sicher einverstanden, dass ich Sie woanders einsetze. In der Gegend um Faunried arbeitet jetzt sowieso schon ein anderes Team. Sie sollten dort gar nicht mehr hingehen. Und wenn Sie meinen Rat wollen, dann halten Sie sich auch von den beiden Söhnen fern. Vor allem von Rupert. Der ist nämlich ein ziemlicher Hitzkopf.«
    Anja antwortete nicht.
    »Nun denn. Sie haben ja zu tun. Schönen Tag noch.«
    Anja nickte nur. Sie hörte, wie seine schweren Schritte auf der Holztreppe nach oben widerhallten. Dann fiel ihr auf, dass er seine Post vergessen hatte. Sie griff danach und wollte schon nach ihm rufen, als sie einen schwarz umrandeten Umschlag bemerkte, der zwischen den Papieren steckte. Grossreithers Schritte waren jetzt über ihrem Kopf. Das Kuvert war bereits geöffnet. Sie zog die Karte heraus, die darin steckte, und las:
    Sein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden
    Anna Leybach, geb. Ruschka
    03. Februar 1918 – 07. September 1999
    Xaver Leybach
    24. August 1938 – 07. September 1999
    Fassungslos und in tiefer Trauer
    bitten wir Gott um Gnade und Barmherzigkeit
    für die von uns Gegangenen.
    Es folgte eine Liste von Namen von Familienangehörigen sowie Ort und Zeit der Trauerfeier. Friedhofskapelle Kleinbruck. Mittwoch, 15. September, 14:00 Uhr.
    Sie steckte die Karte zurück in den Umschlag, raffte die Papiere zusammen und legte alles im Flur in Grossreithers Postfach ab. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür, setzte sich an ihren Platz und starrte vor sich hin. Vierzehn Uhr, dachte sie und schaute auf die Zeitanzeige an ihrem Computer. Eine unbehagliche Vorstellung bemächtigte sich ihrer, etwas Gestaltloses, das drängend in ihr herumkroch. Wann würde Grossreither aufbrechen? Um zwölf? Der Mann müsste sich ja wohl noch umziehen.
    Mit einem Mal wusste sie, dass sie dorthin gehen musste. Eingeladen oder nicht. Sie musste sehen, wer an den beiden Gräbern stehen würde. Aber zuvor würde sie noch etwas ganz anderes tun. Ihr Atem beschleunigte sich bei dem Gedanken. Sie starrte auf den Computerbildschirm und versuchte zu arbeiten. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Endlos langsam verstrichen die Minuten. Dann überkamen sie Skrupel angesichts ihres Vorhabens. Sollte sie es tun? Was versprach sie sich davon? Aber wann, wenn nicht heute, bekäme sie je wieder Gelegenheit dazu?

30
    U m

Weitere Kostenlose Bücher