Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
eingestehen, dass sie sich noch nie gefragt hatte, was die Ereignisse vor zwanzig Jahren für Lukas’ Familie bedeutet haben mochten. Das Gerede über den Feriengast, der auf mysteriöse Weise verschwunden war, und über Xaver, den man verdächtigt und monatelang verhört hatte, musste ihnen mächtig zugesetzt haben. Hatte der Vorfall möglicherweise sogar Auswirkungen auf ihren Ferienbetrieb gehabt? Waren die Gäste ausgeblieben? Haftete dem Ort und der Familie seither ein Makel an? Ging es ihnen auch deshalb wirtschaftlich schlecht?
Und nun hatte es schon wieder ein Unglück gegeben. Fast noch rätselhafter als das erste. Ein Erhängter im Wald und eine vom eigenen Sohn im Stall erschlagene Mutter. Und sie, Anja Grimm, hatte das alles ausgelöst. Grossreithers Ärger über sie mochte ungerecht sein, aber er war in jedem Fall ein guter Indikator dafür, was hier in der Gegend vermutlich geredet und getratscht wurde. War Lukas’ absurder Vorschlag, sie solle am Leichenschmaus teilnehmen, aus diesem Blickwinkel nicht verständlich gewesen? Er wollte seine Familie beschützen, die Gerüchteküche trockenlegen. Was lag da näher, als sie einzuladen? So musste diese merkwürdige Idee in seinem Kopf herangereift sein. Oder war er einfach nur ein wenig verliebt?
Er hatte Interesse an ihr. Und sie? Warum dachte sie dauernd an ihn? Um die Frage nicht beantworten zu müssen, betrachtete sie erneut die Gegenstände vor ihr auf dem Tisch. Aber dort stellte sich sofort die nächste Frage. Warum konnte sie nicht aufhören, nach Spuren und Indizien zu suchen, die bewiesen, dass alles anders gewesen war, als es ihr der gesunde Menschenverstand diktierte? Wie oft hatte sie es ihrer Mutter erklärt, haarklein auseinandergesetzt, sogar mit Fällen aus der Fachliteratur untermauert: Wer im Wald durch einen Unfall zu Tode kam, konnte durchaus durch eine Verkettung ungünstiger Umstände unauffindbar bleiben, sei es durch Tierfraß oder durch einen unglücklichen Sturz in unzugänglichem Gelände. Nach wie vor waren diese beiden Möglichkeiten die wahrscheinlichste Erklärung für alles.
Sie schaltete das Handy wieder ein und wartete einige Minuten, um zu prüfen, ob inzwischen eine Nachricht eingegangen war. Dann wählte sie seine Nummer.
»Hallo?«
»Ich bin’s. Anja. Was machst du gerade?«
Sie hörte, dass im Hintergrund Musik lief.
»Nichts Besonderes«, sagte er. »Wie war dein Tag?«
»Wo bist du?«
»In meiner Wohnung, in Regensburg.«
Sie setzte sich aufs Bett, zog die Schuhe aus und legte sich bequem hin. »Und das Essen nach der Beerdigung?«, fragte sie. »War es so schlimm, wie du befürchtet hast?«
»Schlimmer. Weil ich mir fest vorgenommen hatte, dass du dabei sein solltest.«
Hatte er getrunken? Seine Stimme klang gelöst, ein wenig samtig.
»Wer war denn alles da?«
Er seufzte. »Na alle. Meine Eltern. Rupert, Marga, Annelie. Opa Gollas. Heinbichler, Dallmann …«
»Dallmann? Den habe ich doch wegfahren sehen.«
»Du kennst ihn?«
»Ja. Er hat mich verhört.«
»Ach der. Das ist Konrad Dallmann. Der war nicht da, sondern sein Vater. Gustav Dallmann.«
»Sind die denn alle mit euch verwandt?«
»Nein. Aber Gustav Dallmann und mein Großvater sind befreundet. Schon ewig. Ich sage ja, es war sterbenslangweilig ohne dich. Nur Fossile.«
Anja schloss kurz die Augen. Die Musik, die bei Lukas im Hintergrund spielte, war sehr schön. Es war Klaviermusik, jazzartig, aber sehr ruhig.
»Was hörst du da?«, fragte sie.
»Bill Evans. Gefällt’s dir?«
Sie antwortete nicht. Warum sollte Lukas nicht Bill Evans hören? Doch es verwirrte sie.
»Und du bist ganz allein?«
»Ja. Vor mir auf dem Couchtisch steht eine Flasche Rotwein. Warte mal. Ah ja. Vacqueyras 1997. Echt gut. Es brennen zwei Kerzen. Und auf dem Sessel gegenüber ist sogar noch ein Platz frei. Komm doch vorbei! Du kannst ja die Pralinen mitbringen.«
Sie lächelte. »Jetzt? Nach Regensburg?«
»Klar. In einer knappen Stunde bist du hier.«
»So, so. Und wie komme ich dann wieder nach Hause mit deinem Bordeaux im Blut?«
»Das ist ein Côtes du Rhône, meine Liebe, kein Bordeaux.«
Sie antwortete nicht. Sie winkelte die Beine an, kuschelte sich tiefer ins Bett und gab sich ein paar Augenblicke lang der Möglichkeit hin, tatsächlich zu ihm zu fahren.
Sie hörte seinen Atem durch die Klaviermusik hindurch. Glaubte er ernsthaft, dass sie abends um halb neun von Waldmünchen nach Regensburg fahren würde, um ein Glas Wein mit ihm zu
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