Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
trinken und Bill Evans zu hören? Ja, das glaubte er offenbar. Sie musterte ihre triste Behausung. Natürlich würde sie nicht hinfahren. Aber es kostete ja nichts, es sich vorzustellen.
»Nun?«, kam seine Stimme wieder aus dem Telefon.
»Ich gehe jetzt schlafen, Lukas.«
»Warum hast du angerufen?«
»Einfach so.«
»Einfach so?«
»Ja.«
»Und warum kannst du dann nicht einfach so herkommen?«
Sie wurde wieder unschlüssig. Ein Schluck Wein wäre ihr jetzt durchaus willkommen gewesen.
»Weil …«
Sie hatte eine originelle Antwort geben wollen. Aber es fiel ihr weder eine originelle noch überhaupt eine Erwiderung ein.
»Gute Nacht, Lukas.«
»Gute Nacht, Anja.«
Sie drückte das Gespräch weg und ließ das Handy auf die Bettdecke sinken. Ihre Gedanken wanderten in alle möglichen Richtungen. Warum hatte er ihr über seine Brüsselreise nicht die Wahrheit gesagt? Wieso konfrontierte sie ihn nicht einfach mit der Zeitungsmeldung? Um ihn nicht bloßzustellen? Oder um selbst nicht als neugierig oder misstrauisch dazustehen?
Ihr Atem ging ein wenig schwerer, aber es war mit Sicherheit kein Asthmaanfall. Sie dachte an die gemeinsame Autofahrt nach München. An seine Hände am Steuer, an seine Unterarme. Wann hatte er beschlossen, so zu werden? Ein Städter. War das schon immer in ihm drin gewesen? Oder hatte er einfach beobachtet und dann entschieden? Hatte das etwas mit den Feriengästen aus der Stadt zu tun, die er als Kind erlebt hatte? Und damit auch mit ihr? Etwas in ihrer Hand vibrierte. Sie hob das Handy hoch und las die Botschaft.
Einfach so?
33
D er nächste Tag verging genauso wie der Donnerstag. Sie saß stundenlang am Computer, tippte Blatt für Blatt Bodendaten ein und schwor sich, nie wieder freiwillig Kartierarbeiten zu machen.
Die einzige Abwechslung waren ein paar E-Mails, unter anderem zwei von Henrik. Er war ihr einziger Ex, der den heiklen Übergang vom Liebhaber zum Freund gemeistert hatte. Woran das lag, war ihr schleierhaft. Als ihre kurze, aber intensive Geschichte vor knapp zwei Jahren abrupt endete, war es ihr ziemlich dreckig gegangen. Nach einigen Wochen Liebeskummer hatte sie dann beschlossen, dass Hendrik eben der Typ Mann war, gegen den man als Frau früher oder später geimpft werden musste. Und einem Impfstoff böse zu sein war widersinnig.
Sie hatte damals echte Gefühle gehabt. Er hatte derweil einfach nur ihren Körper genossen. Irgendwann war ihr dieses Missverhältnis aufgefallen, und sie hatte begonnen, ihm mit einer Mischung aus Neugier, Irritation und schließlich Ekel bei seinen sexuellen Verrichtungen mit ihr zuzuschauen, was dazu führte, dass sie seine Berührungen, obgleich sie sich danach sehnte, plötzlich nicht mehr ertrug. Kurz darauf hatte irgendeine Kathrin oder Katharina übernommen, und es war erst gar nicht zu einem Gespräch über die Gründe gekommen. Dennoch waren sie Freunde geblieben. Ganz tief in ihr drin war sie Henrik nämlich dankbar, auch wenn sie nicht genau wusste, wofür.
Jetzt, während sie seine erste E-Mail las, kam ihr ein merkwürdiger Gedanke. War ihre Sexualität möglicherweise gestört? Hatte sie nicht bei allen Männern, die sie gekannt hatte, ähnliche Empfindungen gehabt, die bei Henrik nur deshalb besonders stark zutage getreten waren, weil er von all ihren Liebhabern der egoistischste, selbstverliebteste und leider auch der attraktivste gewesen war? Hatte Henrik an etwas gerührt, was mit diesem verdammten Zimmer auf dem Leybachhof zusammenhing, an etwas Verschüttetes und Verdrängtes? Und war sie deshalb mit ihm auch noch befreundet, weil das kleine Mädchen in ihr ihm irgendwie dankbar dafür war, diese Wunde endlich freigelegt zu haben?
Henrik war noch in der Türkei, wo er an irgendwelchen Grabungen nach antiken Pollen teilnahm, die von der UNESCO finanziert wurden.
Wäre Palynologie vielleicht auch eine Alternative für sie?, überlegte sie jetzt, während sie Henriks humorvolle Schilderungen des Grabungsalltags in einem aus acht Nationalitäten zusammengesetzten Forschungsteam las. Wissenschaftliche Pollenanalyse? Das Nomadenleben eines Forschers? Wohl kaum, dachte sie instinktiv. Was interessierten sie dreitausend Jahre alte Pflanzensporen in Kappadokien? Sie liebte die Natur, den Wald. Aber nicht irgendwo, sondern hier, unter ihren Füßen.
»Wie lange bleibst du denn noch in deinem Böhmerwald?«, schloss die Mail. »Pass auf, dass du nicht noch dem Räuber Hotzenplotz in die Arme läufst. Was ich zu
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