Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
sie. Das Haus der gerade erst verstorbenen Mutter wie von Vandalen verwüstet. Xavers Hund abgeknallt und verscharrt. Und vielleicht fand Dallmann in den nächsten Tagen doch noch einen Hinweis, dass Xaver ihrem Vater etwas angetan und ihn hatte verschwinden lassen. Und mit diesen Leuten sollte sie zu Mittag essen? Wusste hier wirklich niemand, was damals wirklich geschehen war?
Sie entwand sich seinem Arm. Er wirkte enttäuscht. »Anja, warum denn nicht?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Lukas gab auf. »Nun ja«, sagte er resigniert und versuchte heiter zu klingen. »Dann muss ich eben das ganze langweilige Essen hindurch mit meinem Vater oder meinem dämlichen Bruder reden. Oder mit meinem Großvater und Leuten wie Heinbichler. Das musst du dann aber irgendwann wiedergutmachen.«
»Ist Alois Leybach denn hier?«, fragte sie überrascht.
»Alois? Wieso?«
»Du hast von deinem Großvater gesprochen.«
»Ja. Albrecht meine ich natürlich. Der Vater meines Vaters. Der Mann im Rollstuhl, den Heinbichler gerade die Auffahrt hinunterschiebt.«
Sie musterte die beiden kurz, vor allem den beleibten Mann, der den Alten schob. Das war also der Jagdpächter, der die Rodung des Haingries angeordnet hatte. Im nächsten Augenblick waren Albrecht Gollas und Rudolf Heinbichler außer Sichtweite.
»Er hat ziemlich abgebaut und bekommt nicht mehr viel mit«, sagte Lukas. »Seit meine Großmutter vor fünf Jahren gestorben ist, wohnt er in einem Heim in Weiden. Wenn du mich fragst, hat ihn das fertiggemacht. Aber in Faunried konnte er nicht bleiben. Kein Mensch hätte gedacht, dass er sie überlebt. Immer krank, immer irgendwas. Sie hat immer alles gemacht, und dann plötzlich: Peng. Herzschlag. Erinnerst du dich an sie?«
»Oma Grete. Ja.«
»Sieh an. Erstaunlich.«
»Der Name ist aber auch alles.«
»Siehst du. Im Grunde gehörst du doch fast zur Familie.«
»Ich kann nicht mit euch essen«, erwiderte sie bestimmt. »Auf keinen Fall. Bitte entschuldige mich. Ich muss jetzt gehen.«
Sein Gesicht fiel regelrecht in sich zusammen. »Aber wieso kann denn aus diesem ganzen Unglück nicht wenigstens eine positive Sache entstehen: dass wir uns wieder begegnet sind. Anja, ich weiß, der Moment ist wahrscheinlich unpassend, aber …«
»Ja, Lukas. Völlig unpassend. Bitte, sprich nicht weiter.«
Sie wollte gehen, aber so wollte sie das Gespräch auch nicht beenden. »Ruf mich morgen an, okay?«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Er nickte stumm. Dann hielt sie es nicht länger aus und verließ den Laden. Sie spürte im Weggehen, dass er die Augen nicht von ihr nehmen konnte. Sie wollte sich nicht mehr umdrehen, aber bevor sie in ihren VW-Bus stieg, tat sie es doch. Lukas stand unverändert da, die Arme vor der Brust verschränkt, und starrte ihr nach.
32
S ie brachte den nächsten Tag irgendwie herum. Seine Anrufe ignorierte sie. Als sie die dritte Nachricht von ihm fand, schrieb sie ihm eine Textbotschaft, sie habe zu viel zu tun und würde sich am Wochenende melden.
Am Abend telefonierte sie mit Sonja, die keinerlei Veränderung am Zustand ihrer Mutter zu vermelden hatte, was alles und nichts bedeuten konnte. Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte Anja auf ihr Handy, bis ihr klarwurde, dass sie trotz allem damit gerechnet hatte, noch eine Nachricht von Lukas zu bekommen. Aber da war nichts. Sie schaltete das Gerät aus.
Aus dem Erdgeschoss drang gedämpft die Erkennungsmelodie der Tagesschau zu ihr herauf. Sie lauschte teilnahmslos der Stimme des Nachrichtensprechers. Sie konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, hörte nur die Sprecherstimme, unterbrochen durch Einspielungen von Korrespondentenberichten oder Gastkommentaren, die sich klanglich von der des Sprechers unterschieden. Die Vorstellung, dass Millionen Menschen soeben diese Sendung anschauten, kam ihr plötzlich seltsam vor. Nachrichten. Wovon? Für wen? Welche Relevanz hatten diese Meldungen? Nur dem Klang der Sprecherstimmen zu lauschen, ohne den Inhalt der Meldungen zu verstehen, erschien ihr plötzlich wie etwas Sinnbildhaftes. Sie grübelte einen Moment lang darüber nach. Dann musste sie wieder an die Beerdigung denken.
Sollte sie Lukas doch noch anrufen, sich für morgen Abend mit ihm verabreden? Warum dachte sie an ihn? Weil seine Avancen ihr schmeichelten? Sie schaute auf ihren Schreibtisch. Das erste Datenblatt von Einschlag 25 lag noch da, teilweise verdeckt von den alten Herbarienheften ihres Vater.
Anja musste sich erneut
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