Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
ihr wieder den Rücken hinauf. Etwas war damals in diesem Haus mit ihr geschehen. Sah sie Gespenster, oder war in ihren kindlichen Körper etwas eingeschrieben, was ihr Kopf ausgelöscht hatte? Sollte sie Herrn Venner-Brock anrufen? Sie hob den Kopf wieder und musterte verstohlen die Gesichter der Trauergäste, die andächtig der Predigt lauschten. Der Dicke dort, mit der Glatze. Was ging in ihm vor? Und in jener alten Frau mit den zusammengekniffenen Lippen? Wie fremd ihr das alles war. Ihr Blick wanderte wieder zu Lukas und dann zu dem Greis, der zusammengesunken neben ihm im Rollstuhl saß.
Gesang hub an. Der Sarg wurde aufgehoben. Das Foto der schönen Frau aus dem Album trat ihr wieder vor Augen. Was war das für eine Familie! Wer warf ein Fotoalbum weg? Oder war das vielleicht der klügere, reifere Umgang mit der Vergangenheit? Vergessen und begraben? Hätte sie die Kartons mit den Erinnerungsstücken an ihren Vater auch besser dort lassen sollen, wo sie waren? In einer staubigen, verschlossenen Mansarde?
Sie gehörte zu den Ersten, die die Kirche wieder verließen. Die Sonne blendete sie, als sie den Vorplatz betrat. Erleichtert atmete sie die frische Luft ein. Schwarz gekleidete Trauergäste begannen den Vorplatz zu füllen und bildeten jetzt ein Spalier für die Sargträger.
Anja hielt sich abseits, unschlüssig, ob sie nicht besser gehen sollte. Die ganze Zeremonie der Grablegung stand ja noch aus, die Gebete, die Kranzniederlegungen und wahrscheinlich auch noch ein paar Ansprachen.
Sie wollte weg von hier. Aber etwas hielt sie fest. Um nicht gleich von allen gesehen zu werden, zog sie sich wieder an die niedrige Friedhofsmauer zurück und betrachtete die Stelle, wo zuvor Xavers Sarg gestanden hatte. Dort, wo das Loch in der Erde geklafft hatte, erhob sich jetzt ein schmuckloser, länglicher Erdhügel. Lediglich ihr kleiner Strauß weißer Rosen, den die Totengräber offenbar darauf zurückgelassen hatten, zeugte davon, dass hier keine Kanalarbeiten stattgefunden hatten oder irgendein Kabel neu verlegt worden war.
Sie wartete, bis der Zug mit Anna Leybachs Sarg am vorgesehenen Grab angekommen war und der Sarg abgestellt wurde. Jemand sprach. Sie konnte nicht hören, was, es war ihr auch gleichgültig. Kleine Grüppchen lösten sich aus dem großen Haufen. Bald leuchteten die ersten Blumengebinde und Kränze zwischen den schwarzen Anzügen, Kleidern und Mänteln hindurch. Wieder sah sie die schöne junge Frau mit den dunklen Augen vor sich. Wie viele der Männer hier, die jetzt an ihrem Grab standen, mochten sie so gekannt und vielleicht sogar einmal begehrt haben? Oder war von denen keiner mehr am Leben?
Sie reihte sich in die Schlange der Kondolierenden ein und warf einen erwartungsvollen Blick aufs Ende der Schlange, wo sechs Personen Beileidsbekundungen entgegennahmen. Der Mann im Rollstuhl war nicht dabei. Waltraud stand als Erste in der Reihe. Dann folgten Rupert und Lukas, Franz Gollas und schließlich die schwangere Frau mit dem kleinen Mädchen. Wieder spürte sie argwöhnische Blicke. Dallmann stand plötzlich nur wenige Meter von ihr entfernt und fixierte sie überrascht. Der alte Mann an seiner Seite sagte etwas zu ihm, aber Dallmann schüttelte den Kopf, ohne sie aus den Augen zu lassen. Dann nickte er ihr plötzlich zu, lächelte und führte den Mann zur Seite weg. Anja wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Schlange zu. Sie hatte Waltraud fast erreicht. Sie konnte bereits Worte der gedämpften Unterhaltungen hören.
Arme Frau.
Ein erfülltes Leben.
Gott segne Sie.
Lukas schaute zu ihr hin, ließ sich jedoch mit keiner Miene anmerken, was in ihm vorging. Rupert stand stocksteif neben ihm und schüttelte mechanisch Hände. Er ignorierte sie so vollständig, dass sie sicher war, dass er sie schon längst gesehen haben musste. Dann stand sie vor Waltraud.
»Mein herzlichstes Beileid, Frau Gollas.«
Das Gesicht der Frau war wie versteinert. Maskenhaft.
»Danke«, sagte sie kaum hörbar, nahm die Hand jedoch nicht, die Anja ihr entgegenstreckte, und wandte sich bereits dem nächsten Wartenden in der Schlange zu. Anja ging weiter. Jetzt wegzugehen wäre noch peinlicher erschienen, als diese frostigen Reaktionen auszuhalten. Rupert streckte schweigend die Hand aus, als sie vor ihm angelangt war, und schüttelte die ihre kurz und mechanisch. Anja wollte das alles nur noch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die Situation begann sie zu überfordern. Warum war sie bloß hergekommen?
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