Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Als Nächstes schüttelte sie Franz Gollas die Hand, der kein Wort sprach und nur ernst nickte. Dann stand sie Lukas gegenüber.
»Hallo, Lukas.«
»Hallo, Anja«, erwiderte er bedrückt und reichte ihr die Hand »Danke, dass du gekommen bist.«
»Es tut mir alles sehr leid. Für dich. Für deine Familie.«
»Danke.« Er wandte sich an die Frau neben sich. »Marga«, sagte er, »das ist die Grimm Anja. Sie war vor vielen Jahren bei uns in den Ferien, als sie etwa so alt war wie deine Annelie.« Er lächelte dem kleinen Mädchen zu. Es blickte schüchtern zu Anja auf und wurde sofort rot. »Das ist Marga«, sagte er dann, an Anja gerichtet, »meine Schwägerin.«
Anja reichte auch ihr die Hand. Ruperts Ehefrau lächelte unbeholfen, als begreife sie überhaupt nicht, warum Anja ihr vorgestellt werden musste.
Anja wollte schon weitergehen, als Lukas sich noch einmal zu ihr vorbeugte. »Geh bitte noch nicht, Anja. Ich muss mit dir reden.«
Jetzt fiel ihr auf einmal die Ähnlichkeit auf. Die Haltung. Die blonden Haare. Die dunklen Augen. Lukas kam eindeutig nach seiner Großmutter. Ganz anders als Rupert, der vielmehr seinem Vater ähnelte. Lukas war schlank, groß gewachsen, irgendwie edel. Rupert indessen wirkte stämmig und gedrungen. Sie beeilte sich, von der Versammlung wegzukommen, und ging zum Parkplatz. Sollte sie überhaupt warten? Sie konnten auch ein andermal reden. Und worüber überhaupt? Seine Familie machte sie offenbar für dieses Unglück verantwortlich.
Anja entdeckte Grossreither im Gespräch mit dem dicken, grauhaarigen Mann, der in der Kirche neben ihm gesessen hatte. Sie duckte sich unwillkürlich ein wenig. Ihrem Chef wollte sie jetzt auf keinen Fall begegnen. Sie ging über die Straße und betrat in Ermangelung anderer Zufluchtsstätten wieder den Blumenladen. Von hier konnte sie ganz gut beobachten, wie sich die Trauergemeinde allmählich aufzulösen begann. Sie sah Grossreither in seinen grünen Audi steigen und davonfahren. Auch dieser Polizist Dallmann und der alte Mann, der ihn begleitete, stiegen in einen Wagen. Schließlich sah sie Lukas, der durch die Menge hindurchging, hier und da noch eine Hand schüttelte, die ihm entgegengestreckt wurde, aber allem Anschein nach jemanden suchte.
Anja griff nach ihrem Handy, schrieb: »Bin im Blumenladen«, und schickte die Botschaft ab. Sekunden später griff Lukas in die Innentasche seines dunklen Anzugs, holte sein Telefon heraus und las die Mitteilung. Sie konnte sehen, wie er sich in ihre Richtung in Bewegung setzte. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und sah ihm erwartungsvoll entgegen.
»Hier versteckst du dich also«, sagte er amüsiert.
»Ich werde angestarrt.«
»Wundert dich das?«, erwiderte er fröhlich und hakte sich bei ihr unter. »So wie du aussiehst? Komm!«
»Wohin?«
»Ins Restaurant. Ich finde, du solltest mit uns zu Mittag essen.«
Sie blieb abrupt stehen. »Bis du übergeschnappt?«
»Warum?«
»Hast du gesehen, wie deine Familie auf mich reagiert hat?«
»Ach, die werden sich schon wieder einkriegen.«
Sie trat einen Schritt zurück. Er wusste doch wohl, dass sie Xaver angezeigt hatte, oder? Sie verdächtigte seinen Onkel, ihren Vater ermordet zu haben. Und da sollte sie einfach so mit der ganzen Sippe zu Mittag essen?
»Das kommt überhaupt nicht in Frage, Lukas. Vergiss es.«
»Warum denn nicht? Was habt ihr denn alle? Von uns beiden kann doch nun wirklich keiner etwas für dieses ganze Unglück.«
»Wirklich? Hast du gesehen, wie mich hier alle anstarren?«
»Ja. Aber die meinen das nicht so. Anja, meine Familie ist nur … unsicher. Die sind voller Hemmungen dir gegenüber. Deshalb reagieren die so komisch. Wenn wir uns normal begegnen, wirst du schon sehen, dass es ganz gewöhnliche Menschen sind.«
»Normal?«
»Ja. Offen, meine ich. Komm doch bitte mit, Anja. Was glaubst du, was für Schuldgefühle meine Eltern dir gegenüber haben wegen der Sache damals. Das kann man doch verstehen, oder? Für die war das auch alles sehr schwer. Und sie können damit nicht so recht umgehen. Deshalb sind sie so abweisend. Aus Unsicherheit. Komm ihnen einen Schritt entgegen. Das ist vielleicht die Gelegenheit dafür.«
Anja starrte ihn verständnislos an. War das sein Ernst? Waltraud Gollas konnte ihre Gefühle sehr wohl ausdrücken. Diese Frau hatte keine Schuldgefühle. Sie hasste sie. Was für eine Familie war das überhaupt? Lukas mochte anders sein. Aber der Rest? Die Eindrücke vom Leybachhof verfolgten
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