Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
sich.
»Gemütlich hier«, sagte sie und schaute auf die großformatigen Fotografien an den beiden Wänden rechts und links der durchgehenden Fensterfront, jenseits deren man einen schönen Blick auf das mittelalterliche Stadtbild von Regensburg hatte. Eines zeigte Marcel Marceau. Das andere konnte sie nicht zuordnen. Eine Landschaftsaufnahme. Herbstwald. Vielleicht selbstgemacht?
»Klein, aber mein«, sagte er und hängte ihren Mantel auf.
»Wohnst du schon lange hier?«
»Seit dem letzten Studienjahr. Ich war massiv WG-geschädigt, und die Miete hier konnte ich gerade noch bezahlen. Was trinkst du?«
»Erst mal am liebsten einen Tee, wenn du so etwas hast.«
»Tee. Hm. Ja, klar.« Er verschwand hinter dem Raumteiler und füllte einen Wasserkocher. »Ich habe schwarz und grün.«
»Grün, bitte.«
Er kam mit zwei Teetassen zum Tisch, schob die Weingläser, die dort neben einer Karaffe standen, ein wenig zur Seite und stellte die Tassen hin.
»Wie war die Fahrt?«
»Länger, als ich dachte. Aber du warst einfach zu finden.«
»Na immerhin.« Er verschwand erneut und kehrte mit einer kleinen Teekanne zurück. Der Wasserboiler machte einen ziemlichen Lärm. Lukas schaltete ihn aus, goss den Tee auf, trug ihn wieder zurück und nahm schließlich auf der Couch Platz.
»Muss noch ziehen«, sagte er entschuldigend.
»So ist das bei Tee«, antwortete sie spöttisch. Sie drehte sich zur Fensterfront um. »Schöner Blick.«
»Ja«, bestätigte er. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, ertappte sie ihn dabei, dass sein Blick zu ihrem Ausschnitt gewandert war.
»Der Trumpf dieser Wohnwabe ist das Panorama«, bemerkte er beiläufig und offenbar ohne den entlarvenden Hintersinn zu registrieren, denn er schaute sofort woanders hin. Sie schwieg amüsiert.
»Wie läuft es im Wald?«, fragte er. »Und was macht der Husten?«
»Husten? So kann man das auch nennen. Ich arbeite zurzeit im Büro. Und du? Hast du einen Job in Regensburg?«
»Hatte. Aber ich habe gekündigt.«
»Keine Lust mehr?«
»Ich will meine Schulden tilgen, Anja.«
Er schaute sich kurz im Raum um. Dann sagte er: »Das alles, was du hier siehst, haben meine Eltern bezahlt. Die Ausbildung. Den Unterhalt. Ich habe natürlich nebenher gearbeitet und was dazuverdient, aber ohne sie wäre es nicht gegangen.«
»Na ja, so ist das üblicherweise.«
»Rupert bekommt den Hof«, fügte er hinzu.
»Ist doch fair«, erwiderte sie. »Du die Ausbildung. Er die Immobilie.«
»Ja. Das Dumme ist nur, dass er nichts daraus macht. Meine Mutter schuftet bei Aldi, verdammt noch mal! Dabei sitzen wir auf einem Schatz. Mit dem Wald hintendran gibt es tolle Möglichkeiten für Fremdenverkehr. So wie damals. Nur viel besser. Ökologisch. Naturnah. Ganzheitlich.« Er deutete auf ein Regal voller Aktenordner. »Da steht alles drin. Zwei Jahre Arbeit. Ist alles genau durchgerechnet. Ich muss nur noch zur Bank gehen, die Hypothek aufstocken und die Fördergelder beantragen.«
Aufstocken? So war das also. Der Hof war schon belastet worden, wahrscheinlich um Lukas’ Ausbildung zu finanzieren. Und jetzt wollte er noch mehr Schulden machen, um das Ganze so groß aufzuziehen, dass es genügend Profit abwarf, um alle Schulden irgendwann zu tilgen. Warum erzählte er ihr das? Um sie für sein Projekt zu gewinnen? Oder einfach nur, weil es ihn derart belastete, dass er dauernd daran denken musste?
Anja deutete auf die Teekanne. »Ist der nicht bald fertig? Ich glaube, grüner Tee soll nicht so lange ziehen, der wird sonst bitter, oder?«
Er beugte sich vor und schenkte ihr ein.
»Hättest du mich eigentlich wiedererkannt?«, fragte er dann.
»Nein. Bestimmt nicht. Rupert ja. Aber der hat sich auch nicht so sehr verändert wie du.«
»Ich habe mich verändert?«
»Ja. Völlig.«
»Wie meinst du das? Wir waren acht, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Kinder. Das ist ewig her.«
»Ja. Schon. Aber du warst ein Bauernbub, Lukas. Du hast Dialekt gesprochen. Deine Kleidung, dein Habitus, alles eben. Du müsstest eine Frau und drei Kinder haben und auf dem Mähdrescher sitzen. Stattdessen bist du kinderlos geschieden, wohnst wie ein Yuppie, läufst mit Anzug und Krawatte herum, sprichst Hochdeutsch und hörst Bill Evans.«
»Hört sich ja gruselig an. Ich weiß gar nicht, vor welchem Klischee mir mehr graut.«
»Geschenkt. Jedenfalls ist aus dem Bauernbub kein Bauer geworden.« Sie blickte um sich. »Niemand in deiner Familie lebt so wie du, oder?«
Er schüttelte den
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