Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Alpträume vom bösen Wolf. Weil sie sich wie ein Kind weigerte, den Tod zu akzeptieren? Und das Leben? Sie sah auf die Uhr. Es war halb neun. Konnte sie es wagen? Sie griff nach ihrem Telefon und wählte eine Münchener Nummer. Nach dem vierten Klingeln antwortete eine männliche Stimme.
»Frau Grimm?«
»Es tut mir leid, dass ich Sie so früh störe, Herr Venner-Brock.«
»Nein, nein. Das macht nichts. Ich bin schon auf. Ist etwas passiert?«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
»Sicher. Wo sind Sie denn? Möchten Sie vorbeikommen?«
»Nein. Das geht nicht. Ich bin in Waldmünchen.«
Sie gab ihm einen Abriss über die Ereignisse und schilderte ihre Empfindungen beim Wiederbetreten von Xavers Zimmer. Dann erzählte sie von ihrer Nacht mit Lukas und von ihrem Traum. Sie hörte, dass der Therapeut immer rascher mitschrieb. Aber er unterbrach sie nicht.
»Ist so etwas denn vorstellbar?«, fragte sie schließlich. »Gibt es Frauen, die als Kinder missbraucht wurden und das derart verdrängt haben, dass sie sich absolut nicht mehr daran erinnern?«
»Sicher gibt es das«, antwortete der Mann zögerlich. »Aber Frau Grimm, ich möchte das nicht gern am Telefon mit Ihnen besprechen. Wann werden Sie wieder in München sein?«
»Es kann also wirklich so gewesen sein? Und ich weiß absolut nichts mehr davon?«
Er zögerte. »Theoretisch ja. Aber ich kann am Telefon nicht mit Ihnen herausarbeiten, ob das bei Ihnen der Fall gewesen ist oder nicht. Das wäre äußerst unprofessionell.«
»Können Sie mir wenigstens sagen, was man über derartige Fälle weiß?«
»Sicher. Doch Sie müssen mir versprechen, dass wir darüber in Ruhe reden, wenn Sie wieder hier sind. Und dass Sie keine eigenen Schlüsse ziehen aus dem, was ich Ihnen sage.«
»Ja. Klar.«
»So wie Sie es geschildert haben, könnte man vermuten, dass es sich eher um eine Abspaltung handelt und nicht um eine Verdrängung. Verdrängte Erfahrungen kehren oft wie von selbst ins Bewusstsein zurück. Wenn eine traumatische Erfahrung durch einen spezifischen Auslöser plötzlich ans Licht kommt, ist wohl eine Abspaltung oder Dissoziation vorausgegangen. Die Grenze ist allerdings nicht eindeutig zu ziehen, und es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen.«
»Aber wie muss man sich das vorstellen? Wo ist die Erinnerung die ganzen Jahre gewesen?«
»Sie ist komplett weggeschlossen. Je nach Stärke des Traumas reagiert das Gehirn unterschiedlich. Verdrängung ist die erste Stufe. Bei der Abspaltung wird das Erlebte komplett aus dem Gefühlsspektrum entfernt. Es soll im Gehirn sogar organisch nachgewiesen werden können. Aber das kann bei Ihnen unmöglich der Fall sein, Frau Grimm.«
»Warum?«
»Sexueller Missbrauch ist bei psychischen Leiden immer eine der ersten Arbeitshypothesen. Ich habe sehr viele Frauen behandelt, wo die Hypothese zutraf. Ihr Fall liegt meines Erachtens anders. Ich mag mich irren. Aber Sie wären dann in vieler Hinsicht eine Ausnahme von der Regel. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich halte Ihre Erinnerung und den Traum trotz allem für äußerst bedeutsam und hilfreich. Ihr Besuch in diesem Haus hat etwas freigesetzt, das uns bestimmt helfen wird. In diesem Zimmer ist vielleicht wirklich etwas geschehen, das Ihre kindliche Seele nicht wahrnehmen konnte oder wollte. Es wäre in jedem Fall gut, wenn Sie aktiv versuchen, es zu rekonstruieren. Ist Ihnen denn seither nichts mehr in Erinnerung gekommen, um was es sich bei diesem Schatz sonst noch gehandelt haben könnte?«
»Nein. Soll ich noch einmal hingehen?«
»Ist das denn möglich?«
»Sicher«, log sie.
»Na dann, warum nicht?«
Sie beendeten das Gespräch. Anja saß noch einige Minuten unschlüssig da. Dann griff sie nach ihrem Rucksack und ging zu ihrem Wagen.
36
G eschah das wirklich, was sich da vor seinen Augen abspielte? Aber es gab keinen Zweifel. Anja wurde observiert. Die Typen hatten wie er die Nacht vor Lukas’ Haus verbracht. Und jetzt fuhren sie ihr nach. Bei Schwarzenfeld war sie von der Autobahn abgefahren, und der dunkelblaue Audi mit Weidener Kennzeichnen war ihr gefolgt wie eine Wespe.
Die Situation war knifflig geworden. Auf der Autobahn hatte er sich ganz gut hinter anderen Fahrzeugen verstecken können, doch die Landstraße war leer, was ihn dazu zwang, einen größeren Abstand zu halten. Schließlich sah er sie nicht mehr. Aber wo sollte sie um diese frühe Uhrzeit schon hinfahren? Er fuhr nach Waldmünchen. Der VW-Bus war auffällig genug. Er kurvte
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