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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Kontrolle über sich verloren. Großer Gott, er hatte sie geküsst! Aber das war ganz anders gemeint gewesen, als es ausgesehen haben mochte. Wie genau, wusste er selbst nicht. Er hatte eben keine Worte für das, was er hatte sagen wollen. Es war eine absurde Geste gewesen, sein irrwitziger, betrunkener Versuch, sie nicht anzulügen.
    Er erreichte die Ausfahrt nach Regenburg und fuhr die letzten drei Kilometer bis zu Lukas’ Haus in zunehmend schlechterer Stimmung. Er bog in Lukas’ Straße ein. Dann bremste er brüsk. Er schaute fassungslos auf den VW-Bus, der direkt vor Lukas’ Haus geparkt war. So war das also. Sie war hier! Bei ihm! Er fuhr rechts ran, schaltete den Motor aus und blickte mit düsterer Miene die Fassade hinauf zu den erleuchteten Fenstern der Wohnung seines Bruders.
    Er wartete einige Minuten lang, unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Schließlich stieg er aus, schloss den Wagen ab und machte sich auf den Weg, um in der Nähe etwas zu essen aufzutreiben. Er rief Marga an und sagte ihr, dass sie nicht auf ihn warten solle, da er noch zu tun habe. Dann ließ er sich im erstbesten Restaurant nieder, bestellte Gulasch mit Klößen und trank drei Bier dazu. Als er zu seinem Wagen zurückkehrte, war es elf Uhr vorbei. Anjas Bus stand unverändert an der gleichen Stelle. Das Licht in der Wohnung im siebten Stock war erloschen. Er stieg in sein Auto und wartete.
    Nach einer Weile öffnete sich ein Stück von ihm entfernt bei einem Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Beifahrertür, und ein Mann trat auf die Straße. In dem kurzen Augenblick, als die Innenbeleuchtung das Wageninnere erhellte, erkannte Rupert noch einen zweiten Mann. Die Tür schloss sich, der Mann ging ein paar Schritte beiseite und zündete sich eine Zigarette an. Rupert dachte sich zunächst nichts dabei, fand es eher komisch, dass er offenbar nicht der Einzige war, der hier wartete. Er versuchte, den Mann zu erkennen, aber er sah nicht viel mehr als einen dunklen Schemen, der an ein Auto gelehnt dastand und rauchte. Als er fertig war, schnippte er den glühenden Stummel in hohem Bogen in die Nacht und stieg wieder in seinen Wagen ein. Rupert wartete. Aber nichts geschah. Die Minuten vergingen.
    Plötzlich fuhr er hoch. Sein Nacken schmerzte, und er fröstelte. Verwirrt schaute er auf die Uhr. Es war halb zwei! Du liebe Zeit. Er war eingenickt. Er blickte zum Parkplatz hinüber und dann die inzwischen völlig dunkle Fassade hinauf. Anjas Bus stand noch immer da. Okay. Damit war wohl klar, was dort oben geschah. Lohnte es sich also, dass er sich hier die Nacht um die Ohren schlug? Dann entdeckte er wieder den Raucher. Diesmal ging er auf der anderen Straßenseite auf und ab. Rupert kauerte sich unwillkürlich tiefer in seinen Sitz. Die waren immer noch hier? Um halb zwei Uhr morgens? Auf einmal war er hellwach. Ein Verdacht keimte in ihm auf. Auf wen warteten diese Typen? Das Nummernschild des Wagens konnte er von hier aus nicht erkennen. Auch die Marke nicht. Um halb drei erschien der Raucher erneut. Und um Viertel vor vier noch einmal. Ein rechter Stundenraucher, dachte Rupert und überlegte, ob die Typen ihn vielleicht bemerkt hatten. Wahrscheinlich hatten sie ihn gesehen, als er angekommen und dann zum Essen gegangen war, aber seine Rückkehr nicht wahrgenommen. Ihm wurde kalt, doch er wagte nicht, den Motor zu starten. Um halb sechs fiel ein Lichtschein aus Lukas’ Fenster. Um zehn vor sechs ging das Licht im Treppenhaus an. Rupert richtete sich auf, um besser sehen zu können. Die Eingangstür öffnete sich. Anja trat aus dem Eingang und ging auf ihren Wagen zu. Ihr Anblick verursachte ihm einen Stich im Magen. Die Erinnerung an den katastrophalen Abend in Waldmünchen trieb ihm die Schamröte ins Gesicht. Was hatte ihn da nur geritten? Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie auf den Mund und nicht auf die Stirn geküsst. Eine Frau wie Anja war unerreichbar für ihn. Aber mit so einem wie Lukas ging sie ins Bett. Die Arme. Er hatte ihr sagen wollen, wie leid ihm das alles tat. Und dann war nur diese missverständliche Geste herausgekommen. Dieser aberwitzige Kuss.
    Anjas VW-Bus bewegte sich langsam aus der Parkplatzausfahrt heraus und bog in seine Richtung ab. In wenigen Augenblicken würde sie an ihm vorbeikommen. Er duckte sich so tief er konnte. Jetzt war sie auf seiner Höhe. Dann war sie vorbei. Im nächsten Moment setzte sich der andere Wagen in Bewegung. Alarmiert starrte er auf das Nummernschild.

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