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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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groben Holzboden. Sie schloss die Augen und versuchte, sich die vagen Eindrücke aus der fernen Vergangenheit in Erinnerung zu rufen. Mit Xavers Filzjacke gelang ihr dies auch. Auch sein Gesicht konnte sie sehen. Sie konzentrierte sich darauf. Sein Gesicht. Die Art und Weise, wie er sie oft angeschaut hatte. Nein. Herr Venner-Brock hatte recht. Er hatte sie nicht bedroht. Und er hatte sie auch nicht angefasst. Nirgendwo in ihrer Seele regte sich auch nur das geringste Unbehagen, wenn sie an ihn dachte. Er war immer freundlich zu ihr gewesen. Sie öffnete die Augen wieder. Aber dieses Bett? Sie erhob sich und ging darauf zu. Es war ein einfaches, schmales Holzbett. Es stand längs zur Außenwand unter der Dachschräge. Sie betrachtete es argwöhnisch, setzte sich vorsichtig hin, zog ihre Schuhe aus und streckte sich der Länge nach darauf aus.
    Sie schloss erneut die Augen. Was tat sie hier? Was wollte sie mit diesen hilflosen Versuchen von Selbsthypnose denn erreichen? Sie befand sich wieder hinter ihm. Auf der Treppe. Sie sah ihn die Tür öffnen. Das Bett. Etwas lag auf dem Bett. Sie hatte hier gesessen und etwas gesehen. Aber was?
    Sie öffnete die Augen wieder, stand auf und begann, das Zimmer zu durchsuchen. Der Kleiderschrank war bereits leer geräumt. Sie schaute in alle Schubladen, die ebenfalls leer waren. Da es keine weiteren Möbel gab, nahm sie sich als Nächstes die Matratze vor. Sie befühlte sie von oben bis unten, zog sie schließlich vom Bett und starrte durch den Rost auf die staubige, aber ansonsten leere Fläche unter dem Bett. Sie zog es ein wenig nach vorn in den Raum. Durch das Wegrücken des Bettes hatten sich zwei der Paneelbretter leicht gelöst und nach vorne geschoben. Anja drückte dagegen, aber als sie losließ, rutschten sie sofort wieder ein wenig heraus. Erst jetzt sah sie, dass an dieser Stelle mit den Nut- und Federseiten etwas nicht stimmte. Sie waren auf eine Länge von dreißig oder vierzig Zentimeter so verschmälert worden, dass das Paneelbrett hier kaum Halt fand. Es hing nur leicht eingeklemmt zwischen den anderen Brettern. Anja fuhr mit beiden Händen an der linken und rechten Seite der leicht vorstehenden Wandverkleidung entlang und hielt plötzlich ein rechteckiges, etwa unterarmgroßes Paneelstück in der Hand. Dahinter gähnte ein dunkles Loch.
    Sie legte die Holzabdeckung auf dem Boden ab und versuchte, in das Loch hineinzuspähen. Aber außer einem schweren Holzbalken, der wohl zur Dachkonstruktion gehörte, war ohne Taschenlampe nichts darin zu erkennen.
    Vorsichtig steckte sie die rechte Hand in die entstandene Öffnung. Sie befühlte eine schmutzige, staubige Holzoberfläche. Ihre Hand wanderte weiter, hinter der Wand entlang. Plötzlich stieß ihr Mittelfinger gegen etwas. Sie zuckte ein wenig zurück. Aber dann tastete sie sich wieder vor und bekam einen kühlen, harten Gegenstand zu fassen, der sich leicht anheben ließ. Sie umfasste ihn vorsichtig und zog ihn langsam aus dem Versteck hinter der Holzverschalung hervor.
    Es handelte sich um eine dunkelgrüne Blechdose. Argwöhnisch betrachtete sie den unwahrscheinlichen Fund. Und plötzlich sah sie alles wieder vor sich. Das Bett. Die Blechdose darauf. Xaver, der sie anstrahlte und zugleich vor Nervosität zitterte. Sein Schatz! Diese Dose hatte er ihr gezeigt. Unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit hatte Xaver sie damals in dieses Zimmer geführt, die Holzvertäfelung geöffnet und sie in diese Dose hineinschauen lassen. An all das erinnerte sie sich jetzt mit völliger Klarheit. »Das ist vom Vater«, hatte er geflüstert. »Aber er weiß nicht, dass ich es habe. Du darfst dem Vater nichts sagen.«
    Sie hatte geschwiegen und gewartet, dass er die Dose endlich öffnete. Auch das wusste sie jetzt wieder. Aber sie wusste nicht mehr, was darin gewesen war. Sie legte die Blechdose auf dem Bett ab, wobei etwas darin mit einem klackernden Geräusch verrutschte. Einen Moment lang zögerte sie noch. Dann hob sie voller Argwohn und Scheu den Deckel ab. Er klemmte ein wenig, aber durch leichtes Hin-und-her-Bewegen löste er sich allmählich, und es gelang ihr schließlich, ihn zu entfernen. Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war eine Art Brosche oder Abzeichen. Sie war umgeben von kleinen, glänzenden Brocken, die teilweise glatt, teilweise schroff und scharfkantig geformt waren. Sie schüttete den gesamten Inhalt auf der Bettdecke aus und hatte die Hand bereits erhoben, um die Gegenstände ein wenig zu ordnen.

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