Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie noch, es handle sich um Munitionsreste, Patronenhülsen oder so etwas Ähnliches, die jedoch durch irgendeine graue Schlacke zusammengehalten wurden. Aber dann fuhr sie jäh zurück, als hätte sie etwas gestochen. Ihre Hand fuhr panikartig zu ihrem Mund und erstickte einen Aufschrei. Starr vor Entsetzen starrte sie Xavers »Schatz« an. Dann reagierte ihr Körper mit voller Wucht. Bittere Galle stieg in ihrem Rachen auf. Mit einem Würgen sprang sie auf und erreichte gerade noch das Waschbecken in der Zimmerecke.
Der Wasserhahn quietschte nur und entließ keinen Tropfen. Sie stolperte zur Tür, eilte die Treppe hinunter und stürzte zum Waschbecken. Nachdem sie sich drei- oder viermal den Mund ausgespült hatte, griff sie nach dem nächstbesten Krug, füllte ihn mit Wasser und kehrte in Xavers Zimmer zurück, um ihr Erbrochenes wegzuspülen. Sie musste die Prozedur zweimal wiederholen.
Der grässliche Inhalt der Dose lag nach wie vor zerstreut auf dem Bett. Sie überwand ihren Ekel, nahm das Oberteil der Dose und schaufelte alles in das Unterteil hinein. Dann verschloss sie den Behälter. Sie befestigte das Wandpaneel wieder an seinem Platz und stellte sicher, dass die Fuge so übergangslos wie zuvor mit dem Nutenfalz abschloss. Dann rückte sie das Bett an die Wand, strich die Decke glatt und verließ den Raum.
Schwer atmend stand sie im dunklen Flur und lauschte. Nichts regte sich. Fassungslos tastete sie nach der Blechdose in ihrem Rucksack. Sie war natürlich noch da. Wo sollte sie sonst sein? Sie hatte nicht geträumt. Im Gegenteil. Sie war aufgewacht. Die Zeitungsartikel, die sie in der Mansarde gefunden hatte, kamen ihr in den Sinn. »Pertini will KZ Flossenbürg besuchen.« Das Foto daneben hatte einen älteren Mann gezeigt, den sie nicht kannte. Daneben war ein Bild von Franz Josef Strauß zu sehen gewesen. Die Bildunterschrift hatte gelautet: »Ein heikles Ansinnen an den Ministerpräsidenten.«
Flossenbürg. Anja spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Der Ort lag nicht sehr weit entfernt. Vielleicht eine halbe oder Dreiviertelstunde. Sie befühlte erneut ihren Fund. Wer hatte hier gelebt? Was war hier geschehen?
38
K onrad Dallmann fand keinen Schlaf. Er lauschte auf das gleichmäßige Atmen seiner Frau und schaute auf die rotglühende Anzeige seines Digitalweckers, ohne die Uhrzeit wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Aus den Zimmern im oberen Stockwerk, wo seine drei Kinder schliefen, war kein Laut zu hören. Er wünschte, es wäre nur ein Kinderhusten oder ein furchtsames Schreien oder Stöhnen im Schlaf, das ihn geweckt hatte. Dann wäre er kurz aufgestanden und hinaufgegangen, hätte eine seiner Töchter oder seinen Sohn in den Arm genommen und beruhigt und sich anschließend wieder hingelegt. Das hatte er ja schon oft getan und seinen Schlaf immer recht schnell wiedergefunden. Aber seine Unruhe kam nicht von außen.
Er dachte an den Tag, der vor ihm lag. Heute waren sie in dem Waldstück unterwegs, wo der Lehrer lag. Er war sich noch nicht über die beste Uhrzeit im Klaren. Der späte Morgen war eigentlich geplant gewesen. Oder wäre der Nachmittag besser?
Die Aktion war so gut vorbereitet, dass er das Kaninchen sozusagen auf Bestellung aus dem Hut ziehen konnte. Den »übersehenen« Aktenvermerk hatte sein Vater einfach handschriftlich auf der Rückseite einer der vielen Geländebegehungsskizzen angebracht, die noch in den Akten abgeheftet waren. Das kam ja vor, dass man im Laufe von Ermittlungen angesprochen wurde, sich irgendwo etwas notierte und später vergaß, es auszuwerten, oder die Notiz einfach übersah. Er hingegen konnte diese Skizze jetzt »finden«, das Blatt »zufällig umdrehen« und es plötzlich für wichtig erachten, der Beobachtung von Bauer Hermann Gidon – Gott habe ihn selig – nachzugehen, dass Anfang Oktober 1979 im Buchschlag einige Kubikmeter Rodungsabfälle aufgetaucht waren, wo doch weder im Buchschlag noch in der unmittelbaren Umgebung Waldarbeiten stattgefunden hatten.
Er würde das Suchteam in den Buchschlag schicken, und ab da wäre es nur noch eine Frage der Zeit. Drei Stunden? Vier Stunden. Ja. Er würde sie wie geplant gegen elf dorthin schicken. Dann würde alles am Nachmittag in Gang gesetzt. Sollte er psychologische Betreuung für Anja Grimm anfordern? Ja. Das war wohl notwendig. Würde sie die Grube sehen wollen? Bestimmt. Würde er das zulassen? Nein. Er würde ihr Fotos zeigen und sie mit dem
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