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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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besonders dick aufgetragen worden war, klebten noch an der Wand.
    Ein paar Minuten später parkte Carsten seinen Wagen vor dem Haus des Malers. Das Gebäude grenzte an die Ruinen der alten Stadtmauer und ähnelte in seinem verfallenen Charme einem venezianischen Palazzo. Vier Stockwerke hoch, mit zwei breiten Treppen, die geschwungen rechts und links hinauf zum Eingang führten. Hinter mannshohen Fenstern sperrten schwere samtene Vorhänge das Tageslicht aus. Die Fassade ähnelte einem Setzkasten, den jemand mit Figuren aus einem bizarren Zoo voller Fabeltiere gefüllt hatte. Jede Nische, jeder Vorsprung war von steinernen Gestalten aller Art besetzt, Tiermenschen und Echsen, Löwen mit gespaltenen Zungen und kleinen Engeln, denen längst die gefiederten Schwingen abgefallen waren. Ein Großteil der Figuren hatte unter den Jahrhunderten gelitten, und es gab kaum eine, die Wind und Wetter nicht einzelner Glieder beraubt oder gar bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatten. Die Scheiben der Fenster waren lange nicht mehr geputzt worden, und graue Staubschichten saugten das Sonnenlicht auf wie Wüstenboden einen Regenschauer.
    Als Carsten aus dem Wagen stieg, glaubte er hinter einem der Fenster im ersten Stock ein Gesicht zu sehen. Noch im gleichen Augenblick verschwand es rückwärts im Schatten. Die Vorhänge schlossen sich vor den Geheimnissen des Hauses.
    Er gab sich einen Ruck und stieg die Stufen hinauf zum Eingang. Das Holz der Tür war spröde, und der Lack, mit dem man es vor Jahrzehnten gestrichen hatte, blätterte in großen, zerfaserten Fetzen herunter. Carsten betätigte einen Türklopfer aus stumpfem Messing.
    Er hörte, wie das dumpfe Dröhnen der Schläge tief im Inneren des Hauses widerhallte. Eine halbe Minute verging, dann vernahm er Schritte, fest und zielstrebig. Ein Schlüssel wurde herumgedreht. Die Tür öffnete sich mit einem hohlen Schnappen.
    »Sie wünschen?«, fragte Viktor durch den Spalt. Die altertümliche Floskel passte zu dem zerfurchten Gesicht, das im Türrahmen erschien. Carsten hatte keinen Zweifel, dass es zu dem Mann gehörte, den er am Morgen gesehen hatte.
    Er war fast einen Kopf kleiner als Carsten, aber seine Haltung war aufrecht und stolz. Seine kohlschwarzen Augen schienen ihn wie Klingen zu sezieren, so scharf, so schmerzhaft war ihr Blick. Sein graues Haar stand wirr in alle Richtungen, nicht ungepflegt, aber widerspenstig und trotz seines hohen Alters nicht einfach zu bändigen. Die Haut spannte sich eng über seine Wangenknochen, und eine dünne, kaum sichtbare Narbe verlief vom Kinn schräg hinauf zum linken Ohr. Carsten schätzte ihn auf Anfang sechzig.
    Viktor trug einen langen Kittel, dessen Weiß schon vor langer Zeit unter Farbklecksen verschwunden war.
    »Sie wünschen?«, wiederholte er, und diesmal klang seine Stimme streng und ungehalten.
    Carsten räusperte sich. »Entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Carsten Worthmann. Ich bin Journalist.«
    »Von welcher Zeitung?«, kam es messerscharf. Der Blick der schwarzen Augen war noch stechender geworden.
    »Vom Harzboten.«
    »Ich spreche nicht mit Journalisten.«
    »Früher haben Sie es getan.«
    »Heute nicht mehr. Früher wart ihr anders.«
    »Darf ich fragen, warum Sie ablehnen?«
    »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, junger Mann.«
    »Es interessiert mich trotzdem.« Allzu große Höflichkeit schien ihm unangebracht.
    »Sicher. Alles interessiert euch. Der Schmutz, der Dreck, der Verfall um uns herum. Wenn Sie über mich schreiben wollen, warten Sie, bis ich tot bin. Auf Wiedersehen.«
    Viktor wollte die Tür zuschlagen, doch Carsten schob blitzschnell seinen Fuß in den Türspalt. Er war nicht gewillt, sich so einfach abspeisen zu lassen.
    »Mein Junge«, sagte Viktor mit Zorn in der Stimme, »ich mag alt sein und in einem anderen System zu Hause sein als dem Ihren, trotzdem bin ich in der Lage, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Was Sie hier tun, ist Hausfriedensbruch. Überlegen Sie sich bitte genau, ob Sie Ihren Fuß dort stehen lassen wollen.«
    »Tut mir leid«, sagte Carsten, zog den Fuß aber nicht zurück. »Ich möchte mich nur mit Ihnen unterhalten. Kurz, wenn Sie wollen.«
    Die Stimme des Malers polterte wie ein aufziehendes Gewitter. »Hören Sie, ich rede nicht mit Journalisten. Über mich ist schon zu viel geschrieben worden. Viel zu viel.«
    »Aber es geht nicht um Ihre Person.« Eine Notlüge.
    »So?«, fragte Viktor, fern von jeglicher Irritation. »Um was dann?«
    »Um

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