Schweigfeinstill
Sankt-Raphael-Apotheke zwecks Aspirinration und das Reformhaus gegenüber auf. Dort kaufte ich ein, wenn ich mal wieder beschlossen hatte, dass es Zeit war, gesünder zu leben und die Mikrowellenkost für eine Weile unter den Durchschnitt sinken zu lassen.
In Schwabing perlte das Leben. So weit, so gut. Was mich störte, waren die aufgebrezelten Typen, die sich für unverzichtbar hielten, weil sie Geld und Geschmack besaßen. Einen Geschmack, den ich nicht teilte. Aber sie meinten, sie seien die Crème de la Crème. Superdünne Tusneldas in superengen Klamotten mit superschicken Sonnenbrillen, der super duper Brillanttönung im Skalp und der supertollen Karriere guckten superempört, wenn sie beim Shopping einer wie mir auf dem Gehsteig ausweichen mussten. Oder am Eingang eines Geschäfts. Oder sonst wo. Für ihre Spezies war ich Ungeziefer. Störer. Eine Zumutung. Und hierher zog Nero Keller!
Ich fror wie ein Schneider. Mit Rabea hatte ich bis in den frühen Morgen die Tristesse der Welt diskutiert, und wahrscheinlich hatte die Aussichtslosigkeit dieser Diskussion den Schnupfenviren erst den Weg gebahnt. Nun lief mir die Nase, und ich fühlte mich verdammt noch mal krank, als ich in Thalkirchen in die Morgendämmerung zurückkletterte. Was hatte ich hier zu suchen gehabt? Ich gähnte herzhaft. Ein Frühstück hätte mir auch gutgetan, aber ich wollte so schnell wie möglich heim, in meine Klause, um Andys Geschichte zu schreiben. Gestern waren meine Neugier und Starrköpfigkeit Motivation genug gewesen, in der Kälte herumzuhängen und zu observieren. Bei Tageslicht schien mir alles hohl. Was gedachte ich zu finden? Ich spielte Matula, ohne dafür bezahlt zu werden. Wenn Andy ein Problem damit hatte, dass seine Frau fremdging, sollte er. Ich war seine Ghostwriterin und nicht dazu da, das Problem für ihn zu lösen! Wozu hatte ich mich breitschlagen lassen? Hatte Andy überhaupt von mir verlangt, seiner Frau nachzustellen? Hatte ich ihm diese Aufforderung in den Mund gelegt? Spielte ich Samariterin? Der arme Aphasiker und sein Ghost? Mannomann, Kea, dachte ich, als ich in die Alfred-Schmidt-Straße einbog. Der weiß glänzende Schnee von gestern Nacht war nur noch braune Streusalzmatsche mit schwarzen Splitsprenkeln darin. Ja, Ghostwriter waren mitunter so etwas wie Therapeuten. Wir hörten zu und schrieben auf. Wir gaben einem Leben eine Form, aber nur eine literarische, und wir griffen keinesfalls in das Leben des Kunden ein! Ich hievte die Tasche auf meine andere Schulter. Das da drin ist deine Ausrüstung, Kea, erinnerte ich mich. Du schreibst. Du diktierst nicht.
Der Schnee tropfte nass von den Autodächern. Ich zog meine Schlüssel aus der Jackentasche. Hielt inne.
»Das gibt’s nicht.«
Die Fahrertür war vollkommen zerkratzt. Was nicht so schlimm war. Ich hatte eine eher französische Einstellung zu meinem Wagen. Zum Fürchten fand ich, dass die Kratzer zwei gut lesbare Wörter ergaben: ›Letzte Warnung‹.
Ich sah mich um, obwohl mir mehr als klar war, dass der Schreiberling längst seiner Wege gegangen war. Was würde passieren, wenn ich einstieg und den Zündschlüssel drehte? Würde der betagte rote Alfa in die Luft fliegen?
Ich schloss auf und setzte mich auf den eiskalten Sitz. Schob meine Schultertasche auf den Beifahrersitz und befummelte das Zündschloss.
Fahr los, Kea!
Ich startete den Motor. Der Wagen fuhr an. Leise schnurrte der italienische Motor. Nichts explodierte, krachte oder qualmte. Ich steuerte aus der Parkbucht und fuhr. Verfranste mich wie üblich, hielt zwischendurch an einer Tankstelle. Die Benzinpreise krabbelten täglich nach oben, damit die Scheichs sich ihre Hotelsuiten in Montreux leisten konnten, während unsereins den letzten Cent berappte. Ich zahlte mit Kreditkarte. Mein letztes Bargeld investierte ich in eine Süddeutsche, eine Großpackung Taschentücher, einen Becher Latte Macchiato und zwei frisch aufgebackene Croissants. Ich fuhr ein paar Meter, um den Platz an der Tanksäule freizugeben, hielt und aß mein Frühstück. Es war Viertel nach zehn. Ich war todmüde. Hatte schlecht geschlafen mit meiner verstopften Nase, den kalten Füßen und der Straßenbahn, die alle paar Minuten an meinem Fenster vorüberrumpelte. Und jetzt die letzte Warnung. Wovor und von wem? Was sollte ich machen? Keller anrufen? Den Mann zwischen zwei Jobs? Oder lieber Carlo? Juliane kam als Bodyguard nicht in Frage. Mutlos blätterte ich durch die Zeitung. Normalerweise liebte ich es, als
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