Schweigfeinstill
das schon sagst!« Obwohl wir nur selten miteinander zu tun hatten, kannte ich Rabea als stramme Kämpferin für die Rechte der Schwachen und Benachteiligten.
»Letzte Woche habe ich ein Schulprojekt begleitet. Gegen Gewaltfilme auf Handys und so. Die Lehrer konfiszieren Handys, auf denen die Schüler sich Snuffvideos zuspielen. Richtig harte Dinger! Wenn du auf die Eltern zugehst, haben die keine Ahnung, was ein Snuff überhaupt ist. Erklärst du es ihnen, spielen sie alles runter.« Rabea leerte ihr Glas und schenkte sich nach. »Die Jugendlichen kriegen keine Konsequenzen zu spüren. Uns Sozialarbeitern sind die Hände gebunden. Ich habe heute mit einer Staatsanwältin gesprochen. Sie meinte, solange die Rabauken nicht spätestens eine Woche nach einer Straftat vor dem Richter erscheinen müssen, ist denen der Zusammenhang zwischen Tat und Strafe überhaupt nicht klar.«
»Du meinst, was du und deine Kollegen machen, ist alles umsonst?«
»Für’n Arsch.« Sagte Rabea. Du liebe Zeit, es stand schlimm um Staat und Gesellschaft. Ich trank mein Glas leer und Rabea schenkte mir nach. Es tat mir gut, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken als auf die Wohnung in Thalkirchen, als auf Gina, Herrn Lehr und das Model.
»Die Jungs in meiner Gruppe sind ohnehin nicht mehr zu erreichen. Die hocken ihre acht Stunden im Projekt ab, gehen heim und beklauen den nächstbesten Deppen in der U-Bahn.« Rabea zerraufte sich das Haar. Irgendwo in den Tiefen meines Gehirns klickte es; ich sah Rabea einen neuen Job antreten. Ihr Rechner war noch eingeschaltet. Vielleicht schrieb sie Bewerbungen. Ich an ihrer Stelle würde es tun.
»Der Stadtverwaltung würde nicht gefallen, was du da sagst.«
»Weil sie die Augen zukneifen.« Rabea schüttelte wütend den Kopf. »Schlechte Publicity für die Landeshauptstadt ist unter allen Umständen zu vermeiden. Wurde wortwörtlich so an uns weitergeleitet.«
»Du meinst, Touristen fürchten sich, ausgeraubt zu werden, und kommen nicht mehr nach München?«
»Das wurde uns durch die Blume gesagt. Tratsch es nicht weiter.« Rabea wies auf ihren Computer. »Ich habe gerade im Internet gesurft. Das LKA sucht Mitarbeiter, die sich im Bereich Jugendkriminalität an einem Projekt beteiligen. Was meinst du: Wäre das was für mich?«
Woher sollte ich das wissen? LKA … nahm nicht gerade Keller einen Job dort an? Und wieso schon wieder ein Projekt? Gab es nur noch Projekte? Bestand die Welt aus Baustellen, die irgendwo ein paar Löcher flickten und weiterwanderten, um erneut zu schweißen und zu teeren, während andernorts die Asphaltdecke wieder einbrach?
»Warum nicht«, sagte ich zerstreut. Ich sah Nero Kellers Hände vor mir, wie sie die Scheibe abdichteten. Sah die feinen, schwarzen Härchen auf seinem Handrücken und stellte mir vor, wie es sich anfühlen mochte, die Wange an diese Hand zu schmiegen. »Scheiße!«
»Was ist?« Rabea guckte erstaunt. Verflixt. Eben hatte sie ihre Seele vor mir entblößt, ich durfte ihr keinesfalls den Eindruck vermitteln, dass mich das Ganze nicht interessierte. Dass Rabeas Ich Schaden nahm, riskierte niemand gern, denn die Konsequenzen waren üblicherweise schauderhaft.
»Ich denke an die desolate Situation, die du schilderst.« Red nicht so geschwollen daher, Kea! Aber Rabea schien nichts zu merken.
»Man könnte melancholisch werden.« Sie ging in die Küche und kam mit einem Teller zurück, auf dem ein kreisrunder Paglietta-Camembert schimmerte wie Schnee. »Passt gut zum Rotwein, oder?«
Ich spähte auf das Etikett auf der grünen Flasche, das Rabea schon zur Hälfte abgerubbelt hatte.
»Ich beneide dich«, sagte Rabea und schnitt ein Tortenstückchen aus dem Käse. »So frei zu arbeiten. Nur dir selbst verantwortlich. Ich wünschte, ich könnte das auch.«
Ich nickte.
Ja. Ich beneidete mich selbst.
Als ich im Bett lag, hatte ich keine Ahnung, dass wenige Straßen weiter ein Mann eine Wohnung ausmaß. Mitten in der Nacht, weil er am Tag nicht dazu kam. Ich erfuhr erst später davon. In jener Nacht stellte ich mir vor, wie dieser Mann durch die verschneiten Straßen Schwabings ging, ohne Hast, einfach nur, um die Stille zu genießen, in die der Schnee eine Großstadt tauchen konnte.
Mittwoch
27.
Der Schnee war zu Matsch geworden. In der Luft hing Feuchtigkeit, als ich mich zur U-Bahn aufmachte.
Für Schwabing hatte ich nicht viel übrig. Klar, es gab tolle Geschäfte. Aber in der Hohenzollernstraße suchte ich nur die
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