Schweigfeinstill
erstes das Streiflicht zu lesen. Meistens packte mich dann der Neid, weil ich auch gerne so schreiben können würde. Kolumnisten genossen unter Ghostwritern wegen ihrer Prägnanz und ihres Geschicks, zwischen den Zeilen zu schreiben, hohes Ansehen. Heute ließ ich nach zwei Minuten die Zeitung auf den Boden rutschen. Ich krabbelte aus dem Alfa, warf den leeren Kaffeebecher und die Croissanttüte in den Müll und fuhr nach Hause.
28.
Nero Keller lud einen Stapel leerer Umzugskartons aus seinem Volvo. Der Wintermorgen strahlte immer noch weiß, aber es begann zu tauen, und der magische Glanz des Schnees verzog sich allmählich. In wenigen Stunden würden auch auf den Nebenstraßen nur noch Matschreste übrig bleiben. Tiziana hatte versprochen, ihm beim Einpacken zur Hand zu gehen, aber er konnte eine Frau von fast 60 Jahren doch nicht zum Möbelschleppen einteilen!
Er schloss die Tür zu jener Wohnung auf, in der er seit einem guten Jahr lebte. Nach Leonors Tod hatte er das gemeinsame Haus verkauft. Leonor hatte es von ihrem Vater geerbt, aber Nero war der Gedanke unerträglich gewesen, an jenem Ort zu wohnen, wo all die Erinnerungen spukten. Er hatte es auch nicht über sich gebracht, Mieter für das Haus zu suchen. Drei Monate nach der Beerdigung war Nero zu einem Makler gegangen. Ein Haus in bester Lage, in Großstadtnähe, gut hergerichtet … das wird Ihnen aus der Hand gerissen, hatte der Makler verkündet. Und recht behalten. Ein einziges Mal war Nero vorbeigefahren, im vergangenen September, und er hatte zwei Kinder im Garten spielen sehen. Ruhig und versöhnt hatte er nach ein paar Minuten den Wagen gestartet und war davongefahren.
Nun also würde das Leben in der Kleinstadt ein Ende haben. In all den Jahren seines Erwachsenenlebens war die Sehnsucht nach der Metropole in ihm fast in Vergessenheit geraten. Nero lehnte die Kartons an die Wand und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Er würde die Schwabinger Wohnung kaufen. Er hatte das ganze Geld nicht gespart, um es für die Ewigkeit auf der hohen Kante liegen zu haben. Im Gegenteil, wenn er vor dem Einschlafen manchmal an Leonor dachte, bildete er sich ein, sie ermuntere ihn, das Geld, das strenggenommen ihr Geld gewesen war, in seinen Traum zu investieren.
Nero stellte eine Tasse auf den Tisch und legte den Umschlag bereit, den Tiziana ihm inklusive einer langen Litanei zärtlicher Ratschläge mitgegeben hatte. Selbst nach Jahrzehnten in Deutschland tanzte und umwirbelte sie ihr italienischer Akzent wie eine Tarantella. Überdies stammte sie aus Taranto, ganz im Süden Italiens. Mafialand, pflegte sie lachend zu sagen. Manchmal sprach sie italienisch mit Nero, damit er üben konnte. Seine Kenntnisse waren gering. Es reichte für den Touristen Nero, aber nicht für Kommissar Keller, der so gern alles perfekt beherrschte. Der sich keine Fehler zugestand. Nicht einmal in einer Fremdsprache.
Albert Ramsmeier, Tizianas Ehemann, war lange Jahre Senior in einer Anwaltskanzlei gewesen und im vergangenen Jahr in den Ruhestand gegangen. »Ich bin nicht mehr so gesund, wie ich einmal war«, hatte er Nero erklärt, während Tiziana Saltimbocca alla romana zubereitete. »Sieh dir meine Frau an, sie ist munter und gesund, führt ihre italienische Buchhandlung, liebt das Leben und den Wein.« Er hatte vielsagend an sein Herz getippt. »Ich regle das für dich. Den Kaufvertrag, alles. Die Steinfelder kennt mich. Sie ist gut, verlässlich, die ehrlichste in der Branche. Da wird nicht geschmiert, keine Sorge. Ich empfehle dich, und du bekommst die Wohnung.«
Nero schlitzte das Kuvert auf. Die Kaffeemaschine fauchte. Durstig goss er sich eine Tasse ein und zog eine Reihe Papiere aus dem Umschlag. Den Kaufvertrag, eine Notiz in Alberts Handschrift. Und ein Merkblatt zum Thema Pornos im Internet, das Albert irgendwo aufgetrieben hatte, wie ein Haftzettel auf dem Flyer verriet. Albert wusste, womit Nero sich ab dem ersten Januar befassen würde. Der Anwalt tratschte nichts weiter. Anders als Tiziana. Bei ihr wusste man nie, ob der Reiz eines guten Gesprächs sie nicht doch in Versuchung führte, Geheimnisse auszuplaudern. Nero rührte im Kaffee. Was für ein Geschenk, Tiziana und Albert zu Freunden zu haben. Ohne die beiden hätte er die schwersten Wochen seines Lebens nicht überstanden. Und ohne Jassmund auch nicht, das war ohnehin klar.
Auf Alberts Fürsprache hin hatte Nero die Schlüssel bekommen, um die Wohnung in der Nordendstraße ein paar Tage
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