Schweigfeinstill
Erst jetzt. How mad am I, dachte sie. Sie formulierte ihre Fragen immer noch auf Englisch, wie in den ersten 48 Stunden nach der Operation. Sie las die Zeitungsberichte über den Anschlag in The Daily Star Egypt. Es gab im Krankenhaus keine deutschsprachigen Zeitungen, und sie brauchte keine. Die Fremdsprache bot ihr den vollkommenen Schutz vor dem schwarzen, eisigen Tier, das weit unten in ihrer Seele erwacht war. Vermutlich ein Kniff ihres Selbsterhaltungstriebes, sie durch den englischen Input im Krankenhaus in dieser fremderen, nicht ganz so intimen Welt zu halten. Auf Englisch ging alles nicht so tief wie in der Muttersprache.
»Sie haben mich angerufen. Es gibt einen neuen Auftrag. Ich fliege nach Santiago de Chile und fahre von dort aus nach Patagonien.«
Sie starrte ihn an. Don’t go. Go. Geh doch. Why. Leave me alone. It hurts. Does it hurt, Mrs. Laverde? Sie hörte, wie Mario sich rechtfertigte, lange Sätze spann, sie überbrückte und versuchte, sich unter den Rundbögen der Syntax davonzustehlen.
»Wie komme ich nach Hause?«, fragte sie. A stupid question. He won’t bring me home. Coward.
»Ruf deinen Bruder an.«
Sie hatte schon mit Janne telefoniert. Natürlich. Mario war immer eifersüchtig auf die starke Bindung zwischen ihr und Janne gewesen. Sie wollte nicht, dass Mario wegging. Sie wollte, dass er ihr half, diesen Albtraum zu überstehen. Don’t go. I love you, Mario. Kea hob das Kinn.
»Verschwinde.«
»Versteh doch. Das ist ein Job! Mein Flieger geht um sechs. Ich …«
»Verschwinde.«
Ihre zitternden Hände stellten den Teebecher ab. Von draußen hörte sie die Geschäftigkeit der Klinik, die über Mittag anschwoll und zum frühen Nachmittag hin abklang, wenn sich alle zurückzogen und auf die Kühle des Abends warteten. Verpiss dich, Mario. Komm niemals zurück.
56.
Ich hatte geendet. Ein paar Dinge hatte ich für mich behalten. Keller sagte nichts.
»Und?«, fragte ich.
»Es ist nicht schlimm, verwirrt zu sein. Nur muss man diese Verwirrtheit beherrschen lernen.«
Meinte er mich?
»Sie sind selbst verwirrt! Wechseln den Job aus Gründen, die Ihnen selbst unbekannt sind. Sie machen sich doch was vor!«
»Entlarven Sie Ihre eigenen Denkgewohnheiten, nicht meine!«
»Sie sind es, der den eigenen Zwickmühlen gegenüber blind ist.«
Wir hielten in Bogenhausen hinter dem weißen Grabhügel, unter dem mein Alfa ruhte. Keller half mir, ihn freizuschaufeln.
»Fahren Sie nach Hause«, sagte er. »Was ist mit Ihrer Tür passiert?«
Die ›letzte Warnung‹ begann zu rosten. Ich hatte dieses Detail ausgespart. Keller schien es mir übelzunehmen. Ich radebrechte herum, aber er schnitt mir das Wort ab. »Fahren Sie voraus. Meine Güte, ein italienisches Auto, bei dem Wetter. Sie gehen dem Ärger wirklich nicht aus dem Weg!«
»Es gibt da eine tolle Errungenschaft. Nennt sich Winterreifen.« Ich biss mir auf die Lippen. Keller erinnerte mich an jene Schulkollegen, die in Schönschrift ein ›Sehr gut‹ hatten und machten, was der Lehrer sagte. Meinen Spider liebte ich heiß und innig. Er hatte 18 Jahre auf dem Buckel und fuhr immer noch wie eine Eins.
»Ich begleite Sie.«
Das hatte mir gerade noch gefehlt.
Er fuhr hinter mir her nach Ohlkirchen. Es wurde stockfinster, die herannahenden Wolken schluckten die Abenddämmerung, und neuer Schnee flog vom Himmel herab wie Konfetti. Meine Scheibenwischer hatten ihre liebe Not. Jedes freie Sichtfeld wurde sofort von einer weißen Schicht verdeckt. Wir brauchten über eine Stunde, bis wir um halb sieben durch Ohlkirchen kamen. Das Piranha leuchtete grell in der schwarzen Nacht. Sie hatten den freien Tag genutzt, um grüne und weiße Lichtschlangen außen an den Fenstern zu montieren. Das letzte Stück über die schmale Straße zwischen Ohlkirchen und Sieling war zwar geräumt worden, aber mittlerweile war die Fahrrinne wieder zugeschneit. Ich musste grinsen, als ich den Alfa, ohne ins Rutschen zu kommen, den Hang hinaufsteuerte und vor meinem Schuppen die Handbremse zog. Von wegen italienische Autos.
Mein Haus lag im Dunkeln. Sah aus wie eine seit Langem verlassene Höhle. Keller und ich waren die Archäologen, die gleich in sie hinabsteigen würden, um ihre Schätze zu heben. Das Schnattern meiner Grauen begrüßte mich. Verdammt, ich hatte das Vorhängeschloss vergessen. Ich stiefelte zum Freilauf. Die beiden Gänse wirkten nervös, watschelten hinter dem Zaun hin und her und beschwerten sich lautstark über meine lange
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