Schweinehunde / Roman
Jørgensen zu einer Expertin im Pillenzählen geworden. Sie hatte sämtliche zehn Tabletten vor sich aufgereiht: Sieben stammten aus gewöhnlichen Gläsern mit Plastikschraubdeckeln, die übrigen drei hatte sie aus einer Blisterpackung gedrückt. Sie zeigte darauf und erklärte ihrer Auszubildenden: »Diese hier wirst du noch hassen, die führen mit der Zeit zu Arthrose im rechten Daumen.«
Die Auszubildende blickte auf ihren Daumen, als wollte sie sich bereits jetzt davon verabschieden. Helle Smidt Jørgensen fügte müde hinzu: »Das dauert eine gewisse Zeit, aber pass jetzt auf. Zu Anfang nimmt man den Deckel von den Tablettenboxen. Die sind jeweils für vierzehn Tage. Dann verteilst du systematisch, die Morgentabletten zuerst, dann die für mittags und zuletzt die für den Abend und die Schlaftabletten. Bei Signe Petersen macht das, wie du siehst, zweiundzwanzig Pillen pro Tag. Wenn sie nicht bereits krank wäre, würden all diese Pillen sie krank machen.«
Ihr war nicht wohl bei dieser Erklärung, war sie doch weiß Gott nicht die Richtige, um sich über Tablettenmissbrauch zu äußern. Plötzlich legte sich ein Schleier über ihre Augen, und ihren Worten fehlte der Zusammenhang: »… Verbrauch an Schlaftabletten und Psychopharmaka ist verdammt hoch, und das schon seit Jahren. Und trinken darf ich auch nichts, sonst komme ich nicht über den Tag. Früher waren es nur die Nächte, aber jetzt höre ich tagsüber Stimmen auf dem Gang, denke, es ist die Polizei …«
Sie sah ihre Auszubildende an, die weit weg zu sein schien und vermutlich nichts verstanden hatte. Das taten sie nie. Sie erklärte geduldig: »Der Puls steigt, und die Hände zittern. Das ist das Stresshormon Adrenalin, es beeinflusst den Sympathikus, wenn man rund um die Uhr auf der Flucht ist. Nachts der Onkel und tagsüber die Polizei, weißt du. Ein Schnäpschen und eine Stesolid nehmen dem Ganzen die Spitze. Rund um die Uhr.«
Etwas stimmte nicht, aber sie wusste nicht, was. Sie verließ ihr Büro, ging unsicher über den Flur und setzte sich draußen auf die Treppe vor dem Hintereingang des Altersheims. Hier konnte sie frische Luft schnappen und wieder zu sich kommen. Der kühle Wind streichelte ihre Stirn, und ein einzelner Sonnenstrahl trotzte den grauen Wolken und schien auf sie herab. Sie atmete ein paarmal tief durch und spürte, wie die Welt mit einem Mal kleiner wurde, als wäre alles um sie plötzlich ohne Bedeutung. Ein unbekanntes Gefühl ergriff sie, ein Gefühl, das irgendwie weit weg und gleichzeitig ganz nah war. Sie war Kind, spielte Ball, und nur das war wichtig.
Karen, Maren, Mette bum, Anni, Anne, Anette bum, Kylle, Pylle, Rylle bum, Bente bum.
Die Verse waren leicht, auch der neue,
Alekto, Megaira, Tisiphone bum, Nemesis bum,
aber es war schwer, die Bälle zu fangen, besonders die Überkopfwürfe. Manchmal verlor sie einen Ball und musste wieder von vorn anfangen. So lauteten die Regeln. Und sie befolgte sie, fest entschlossen, so gut zu werden wie die großen Mädchen. Ein Ball rollte von ihr weg, und sie fand ihn nicht gleich und musste die Augen öffnen, um ihn zu suchen. Um sie herum waren überall Menschen, Menschen, die ihr helfen wollten.
Sie sagte ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, alles würde wieder in Ordnung kommen. Sie verstanden sie. Natürlich taten sie das, ihre Worte waren ja auch leicht zu verstehen. Wie es leicht war zu schwimmen, wenn man es erst gelernt hatte. Ohne Schwimmreifen paddelte sie stolz neben ihrer Mutter her. Sie liebte es, mit ihrer Mutter ins Schwimmbad in Østerbro zu gehen. Sie wagte sich etwas weiter weg, verlor dann aber den Mut, als ein großer Junge, der sicher bereits zehn Jahre alt war, auf sie zugekrault kam. Es war nicht leicht zu wenden, aber es gelang ihr. Dann hörte sie die Lautsprecherdurchsage:
Alle mit einem gelben Band werden gebeten, das Bad zu verlassen.
Das betraf sie, sie hatten solche Armbänder, gelb und elastisch, mit dem Schlüssel für den Garderobenschrank am Fußgelenk. Sie schnitt eine ärgerliche Grimasse und sah ihre Mutter an, dann küssten sie sich lachend, wobei sie sich anstrengen mussten, nicht unterzugehen. Langsam schwammen sie zum Beckenrand. Danach wurde alles dunkel.
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D ie Stimmung in der Mordkommission des Kopenhagener Präsidiums war gedrückt.
Der Justizminister des Landes hielt eine Ansprache im Radio. Der Mann war bekannt für seine sprachlichen Blüten und seine luftigen Wendungen, doch an diesem Montag übertraf
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