Schweinehunde / Roman
Verbrecher.«
»Und du glaubst, dass das etwas nützt?«
Sie überhörte die Frage. Es war das dritte Mal, dass Erik Mørk diese Passage miterlebte, trotzdem wirkte sie auf ihn so stark wie beim ersten Mal. Ihr schönes Gesicht strahlte auf einmal Verzweiflung und Ohnmacht aus.
»Sie sollten meinen Bruder sehen. Er hat das überhaupt nicht verkraftet, er ist noch heute schrecklich krank, und jetzt haben sie in der Klinik nicht einmal mehr ein Bett für ihn.«
Er hatte Lust, einfach seine Arme um sie zu legen und sie an sich zu drücken, er wollte sie trösten, sie beschützen, wies den Gedanken aber als absurd von sich und trat unbewusst ein paar Schritte vor.
Der Interviewer ließ sie eine Pause machen. Als sie wieder ansetzte, klang sie gefasster, ihre Stimme war tiefer.
»Wo waren die Erwachsenen, als ich sie am meisten gebraucht habe? Wo war meine Mutter? Meine Familie? Meine Lehrer? Die Pädagogen? All jene, die auf mich hätten aufpassen sollen?«
Sie wandte ihren Kopf mit einem Ruck ab und sprach direkt in die Kamera. Der Produzent unterbrach: »Okay, cut. Den letzten Übergang müssen wir noch ein paarmal machen, das kommt noch nicht spontan. Das geht zu schnell.«
Das Mädchen fauchte ihn an: »Erst war es Ihnen zu langsam.«
»Ja, und jetzt ist es, wie gesagt, zu schnell. Außerdem solltest du eine Spur weniger anklagend sein, ruhig mit ein bisschen Unsicherheit in der Stimme. Lass dir mehr Zeit, das darf nicht wie aufgesagt klingen. Kriegst du das alles auf einmal hin?«
Erik Mørk hatte selbst keine wirklich klare Vorstellung von der Szene, doch das Mädchen machte beim zweiten Mal alles perfekt, kam mit Bravour durch die schwierige Passage und durfte mit ihrem Text weitermachen.
»Wo wart ihr damals? Und wo seid ihr heute? Warum lasst ihr pädophile Vereinigungen zu? Warum bestraft ihr normale Vergewaltiger härter als den Missbrauch von Kindern? Warum …«
Der Produzent unterbrach sie.
»Danke, danke, das war wunderbar.«
Die junge Frau richtete sich auf, und ihr Gesicht wirkte mit einem Mal ganz leer.
»Was mache ich, wenn ich unterbrochen werde?«
»Das wirst du nicht, aber ein Detail noch …«
»Verdammt, nimmt das denn nie ein Ende?«
»Kannst du versuchen, ein bisschen trauriger zu wirken, wenn du über deinen Bruder sprichst?«
»Ich kann weinen, wenn ich über ihn spreche.«
Es war Pause. Der Interviewer verließ das Studio, während das Mädchen, der Kameramann und der Produzent zu Erik Mørk gingen. Der Produzent sagte: »Sie ist wirklich das größte Talent, mit dem ich je gearbeitet habe. Sie kann rot werden wie die Tugend selbst, ihre Tränen lassen selbst einen Geldeintreiber nicht kalt, und ihr Lächeln erhellt sogar eine Winternacht. Wort und Satzbetonung, Tonlage, Aussehen – bei ihr stimmt alles, und sie ist auch noch offen und lernwillig.«
Er sprach, als wäre sie gar nicht da. Erik Mørk konnte ihm aber nur recht geben. Ihr Medienpotenzial war sensationell, trotzdem spürte er eine gewisse Sorge.
»Aber das, was sie sagt, ich meine, ist das wirklich … passiert?«
»Wie passiert? Ich verstehe nicht, wie meinen Sie das?«
»Ich meine, ob das tatsächlich so passiert ist.«
Der Produzent ging. Erik Mørk sah ihm verwundert nach und wandte sich an den Kameramann: »Warum ist er gegangen? Ist er sauer, oder was?«
»Machen Sie sich keine Gedanken darüber, er ist etwas exzentrisch. Er ist kein Mann der Worte, aber wir sind froh, eine Kapazität wie ihn zu haben, er ist fabelhaft.«
Erik Mørk nickte, als verstünde er, während der Kameramann fortfuhr: »Sie sollten mal sein Buch lesen!
In dem globalen Dorf ist die Kamera Gott,
oder
Alle trampeln auf Ungeziefer herum, keiner auf Marienkäfern.
Das sind zwei seiner berühmtesten Zitate.«
»Tja, da mag was dran sein.«
»
Was dran sein?
Sie kapieren das nicht, oder?«
»Nein, vermutlich nicht.«
Der Mann holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Er bot dem Mädchen eine an, das wortlos den Kopf schüttelte, schnippte sich eine Zigarette heraus und klemmte sie sich hinter das Ohr, während er in seinen Taschen nach einem Feuerzeug suchte.
»Haben Sie gestern diese Mutter gesehen? Die in den Ruinen dieses Wohnblocks gestanden hat? Das war ein Beitrag von CNN.«
Erik Mørk nickte, diesen Beitrag hatte er tatsächlich gesehen.
»Das war völlig absurd. Allein schon das Setting war eine Katastrophe. Schwarzer Umhang, ungepflegte Haut, Augenbrauen wie die Mähne eines Ponys, und erinnern Sie sich noch
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