Schweinehunde / Roman
Sicht ja normal war, und ich weiß bis heute nicht, warum ich mich nicht gegen meinen Stiefvater gewendet habe. Er war mein böser Geist, nicht sie. Im Gegenteil, sie hat mich immer gewarnt, wenn er im Anmarsch war – und dann den Fernseher laut gestellt. Ich habe versucht, ihr mit einem gusseisernen Topf den Schädel einzuschlagen. Ich habe ihn aus dem Fenster geworfen, als sie unten im Hof mit der Wäsche war. Wir wohnten im dritten Stock, und ich habe mein Ziel um mehrere Meter verfehlt, aber über meine Absicht bestanden kaum Zweifel, so dass ich ins Kinderheim Kejserstræde kam. Am ersten Tag dort bekam ich furchtbare Prügel. Diesen Willkommensgruß mussten alle über sich ergehen lassen, aber als ich abends grün und blau geschlagen in meinem neuen Bett lag, war ich das glücklichste Kind der Welt.«
Er ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Alle waren hoch konzentriert, niemand nippte an seinem Getränk, keiner sah den anderen an. Alle hörten ihm zu – unbeweglich und mit angehaltenem Atem, als vertraute er sich jedem Einzelnen von ihnen persönlich an. Er spürte Tränen aufsteigen. Nicht wegen seiner Kindheit, sondern weil sie ihm zuhörten und Respekt erwiesen, das nannte man Solidarität. Trotzdem war seine Stimme fest, als er fortfuhr: »Nicht nur ich bin missbraucht worden, und vielleicht gehöre ich sogar noch zu den Glücklichen, wie sehr meine Seele auch Schaden genommen hat. Ein noch tragischeres Beispiel ist meine kleine Schwester. Sie trat an meine Stelle, als ich ins Kinderheim kam, war aber deutlich zarter besaitet als ich und ist daran zugrunde gegangen. Mit zweiundzwanzig hat sie sich eines Morgens mit einem Tuch über dem Kopf auf die Schienen der Küstenbahn gesetzt.« Er wischte sich mit zwei Fingern die Tränen weg und fuhr fort.
»Ich habe mich oft gefragt, was sie dachte, als sie dort auf den Schienen saß und den Zug mit kreischenden Bremsen herannahen hörte. Waren ihre Gedanken bei meinem Stiefvater? Dachte sie an nichts? An sich? An mich? Ich werde keine Antwort auf diese Frage bekommen, sooft ich sie mir auch stelle. Am Tag ihres Todes habe ich ihr geschworen, ihren Nekrolog zu schreiben, wenn die Zeit reif ist und ich die Gelegenheit dazu bekomme. Nicht indem ich ihre Geschichte erzähle, die ist zu banal und gerät zu schnell in Vergessenheit, sondern indem ich eine Reihe von Fragen stelle. Heute habe ich die finanziellen Möglichkeiten und gedenke sie zu nutzen. Außerdem ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Die fünf Hingerichteten in der Langebæk-Schule waren alle aktive Pädophile, jeder von ihnen hat zahlreiche Vergewaltigungen auf dem Gewissen. Wie Sie wissen, kursieren schon seit einiger Zeit gewisse Gerüchte, und mein Kontakt im Morddezernat hat mir gesagt, dass die Polizei diese Gerüchte erst im Laufe von einigen Tagen bestätigen wird. Es gibt also keinen Zweifel daran, dass Pädophilie bald zum alles dominierenden Medienthema werden wird. Im Zuge dieses Medienspektakels gehe ich mit meinen Fragen an die Öffentlichkeit, und sie werden eine andere Wahrheit, eine andere Perspektive aufzeigen.«
Er schaltete mit eingeübtem Timing den Projektor ein, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die Toten zu lenken, und sofort richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf die Leinwand.
»Diese Annonce findet sich morgen in den großen Tageszeitungen und in allen Gratisblättern.«
Er gab ihnen eine Minute, in der sie verblüfft die Anzeige lasen, dann begann er zu erklären: »Es gibt natürlich eine Dunkelziffer, aber zahlreiche Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Bevölkerung während ihrer Kindheit missbraucht wurden, was bedeutet, dass hierzulande zirka fünftausend Kinder zwischen fünf und zehn Jahren sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Ich selbst bin in meiner Kindheit etwa achthundertmal vergewaltigt worden, ich habe mehr oder weniger mitgezählt. Aber vielleicht war ich unter den Unglücklichen eine besonders unglückliche Ausnahme. Ich setze die durchschnittliche Zahl der Vergewaltigungen für ein normales missbrauchtes Kind dieser Altersgruppe auf zweihundert fest. Jetzt kann jeder seinen Taschenrechner nehmen. Ich erspare Ihnen die Zwischenrechnungen, aber ich komme zu der Schätzung, dass hier in Dänemark jeden Tag etwa fünfhundert Kinder vergewaltigt werden.
Sollte das stimmen, frage ich Sie, was das größte Problem der Gesellschaft ist: die Pflegeheime? Die Schulen? Die Autobahnen? Oder die fünfhundert Kinder, die
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