Schweinehunde / Roman
geworfen, als sie voller Verblüffung die Augen aufriss. Ihr Begleiter missverstand die Situation und legte ihr den Arm schützend um die Schultern. Sie schüttelte ihn ab und starrte ungläubig auf den Toten. Es gab keinen Zweifel.
Dieses Gesicht hatte sie erst in der vergangenen Nacht fotografiert.
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D ie Annonce ging über eine halbe Zeitungsseite. Ein teurer Vierfarbendruck.
Zuoberst war die Fotografie eines achtjährigen Jungen plaziert worden. Die körnige, niedrige Qualität des Bildes und die blonden, bis über die Ohren reichenden Haare des Jungen ließen erkennen, dass die Aufnahme aus den siebziger oder achtziger Jahren stammte. Ansonsten war er nicht sonderlich auffällig. Der Junge lächelte etwas schüchtern in die Kamera. Mit etwas Phantasie war zu erkennen, dass er die Fotosession gerne hinter sich hätte, damit er endlich wieder Fußball spielen konnte. Auf der unteren Hälfte der Annonce war ein weiteres Porträt. Es zeigte das Gesicht eines erwachsenen Mannes Mitte dreißig, der die Leser anblickte. Aus seinen Augen sprach Entschlossenheit, er wirkte ernst, und auf seinen Lippen war weder ein Lächeln noch Ablehnung oder Zorn zu erkennen. Es war naheliegend, die beiden Gesichter miteinander zu vergleichen. Für ungeübte Augen war keine Ähnlichkeit zu erkennen.
Der Text der Anzeige war mit einer alten Schreibmaschine geschrieben worden, wobei die Schrift die rohe, direkte Botschaft unterstrich. Vier kurze Abschnitte, in der Ich-Form geschrieben, hielten fest, dass der Junge sexuell missbraucht worden war. Diejenigen, die auf ihn aufpassen hätten sollen, hatten versagt, und noch heute empfand der Mann eine tiefe Scham und sprach mit niemandem über seine Kindheit. Bis jetzt. Der letzte Abschnitt bestand aus einer Reihe Fragen:
Wie viele Kinder wachsen wie ich auf? Wie viele Kinder werden heute Abend in Dänemark vergewaltigt? Zehn? Hundert? Fünfhundert? Tausend? Was schätzen Sie? Oder ist es Ihnen egal?
Im Roskildevej-Amtsgymnasium las die Klasse 3Y die Annonce. Eine der Schülerinnen hatte sie kopiert und ausgeteilt, um das, was sie sagen wollte, zu unterstreichen. Jetzt stand sie wartend neben dem Pult, während der Lehrer am Fenster Platz genommen hatte. Das Mädchen war eine seiner besten Schülerinnen, deshalb hatte sie es nur ein süßes Lächeln gekostet, die ersten zehn Minuten seiner Stunde für ihre privaten Ausführungen zu bekommen. Sie war nicht nur klug, sondern auch ausnehmend schön, und der Lehrer musterte sie verstohlen von Kopf bis Fuß, wobei sein Blick durchaus etwas mehr als nur pädagogisches Interesse ausdrückte.
Als alle die Annonce gelesen hatten, erzählte das Mädchen ruhig von ihrer Kindheit. Ohne Hass oder Selbstmitleid. Ihre Worte ergriffen die Schüler und ließen sie verstummen. Jedes Wort traf, jeder Satz erreichte sie, und ihre steinerweichende Geschichte brannte sich in sie ein wie niemals eine Geschichte zuvor. Es war schnell klar, dass sie alle betroffen waren und etwas tun mussten. Für das Mädchen, für die Klasse, für alle. Jeder von ihnen spürte das – zum ersten Mal in ihrer Jugend.
Niemand von ihnen ahnte, dass das Mädchen ihre Rede genauestens vorbereitet hatte. Sie hatte gewusst, dass die Annonce an einem der nächsten Tage erscheinen würde und sie ihre Geschichte parat haben musste. Oft, sehr oft hatte sie vor dem Spiegel gestanden und das Einsetzen ihrer effektiven Wirkungsmittel geübt, bis alles perfekt war: Tonfall, Wort und Satzbetonung, der Kloß im Hals, das spontane Erröten – sogar die Locke, die ihr irgendwann wie zufällig in die Augen fiel. Innerlich fühlte sie nichts, abgesehen von ihrem glühenden Ehrgeiz, ihre Rolle als Brandstifterin wirklich gut zu spielen. Und all das, obgleich sie wusste, dass dies nur die Generalprobe war und die viel größere Bühne noch auf sie wartete.
Nach zehn Minuten war sie fertig. Dabei glitzerte eine Träne in ihrem Augenwinkel, und sie bat ihre Mitschüler, sie zu unterstützen, dass auch andere von ihren Erlebnissen erfuhren. Wie der Mann in der Zeitung, nur dass sie sich keine teuren Anzeigen leisten konnte. Sekunden später wurde ihre Bitte bereits erfüllt, denn die Finger ihrer Mitschüler hasteten über die Tastatur ihrer Handys und brachten ihre Geschichte in Umlauf. Zwei praktisch veranlagte Freundinnen stimmten sich kurz ab und kamen zu dem Schluss, dass ihre geplante Shoppingtour und die Diesel-Jeans warten konnten. Ohne Umschweife legten sie ihr Geld auf das
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