Schweinehunde / Roman
hatte.
Konrad Simonsen faltete den Zettel des jungen Mannes auseinander, warf einen Blick darauf und fragte: »Und was soll ich damit?«
»Die ist überall im Netz, und es tauchen immer mehr auf. Blogs, Newsgroups, Sites, sogar die ganz großen. FOX TV hat das als Headline, sogar MTV. Die ist wie ein Supervirus, nur dass die Leute sie auch von zu Hause aus weiterverschicken, man kann bereits T-Shirts mit dem Aufdruck kaufen …« Er zögerte, musterte seinen Chef und zog den Kopf ein: »… also, vielleicht.«
Konrad Simonsen zwang sich zur Geduld und hörte weiter zu. Er neigte zu Hektik, wenn er einen großen Fall bearbeitete. Im Gegensatz zu seinen anderen Kollegen deutete der junge Mann die Zeichen aber falsch. Er war selbst aufgeregt und hielt das, was er zu erzählen hatte, für unaufschiebbar. Konrad Simonsen verstand nicht bis ins Detail, was daran so wichtig war. Noch einmal warf er einen Blick auf das Blatt Papier. Die Skizze sprang einem förmlich ins Auge.
Sie war mit ihren wenigen, schwarzen Striche verführerisch einfach. Der Zeichner hatte den finsteren, trostlosen Ernst der Situation genau getroffen. Die Perspektive entsprach dem Blickwinkel eines der Opfer im hinteren Teil der Turnhalle, bevor die Falltür sich öffnete. Der Betrachter sah sozusagen durch die Augen des Delinquenten. Schräg vor ihm, etwas nach unten versetzt, waren die Hinterköpfe seiner bereits gehängten Leidensgenossen zu erkennen. Ein paar hastig gekritzelte Sprossen auf der rechten Seite des Bildes deuteten an, dass man sich in einer Turnhalle befand, aber es waren in erster Linie die Zuschauer, die alle Blicke auf sich zogen. Zuoberst thronte der Richter wie ein von Motten zerfressener Allvater: halb Gott, halb Clown, unter dessen schlaffen Händen verstaubte Attribute lagen. Gesetzbuch, Donnerkeil und Waage. Eine tragikomische Nachdichtung aus der Rüstkammer der Antike mit Nonsens im Blick und toten Fliegen auf der Perücke. Darunter saßen Kinder jeden Alters, die mit traurigem Blick zu dem Todgeweihten aufsahen. Sie verkörperten das Jetzt – Dutzende von kleinen Alternativen. Geduldig, gerecht, gnadenlos. Fast spürte man, wie sich das Tau um den Hals straffte. Konrad Simonsen zog den Hals ein. Die Überschrift lautete:
Too late.
[home]
26
I ch weiß, die meisten von Ihnen kennen mich gut. Aber es gibt etwas in meinem Leben, von dem niemand etwas weiß, und diese Sache hat leider mein Leben bis heute geprägt, und ich werde sie niemals abschütteln, sollte ich auch hundert Jahre alt werden.«
Erik Mørk war nervös. Seine Einleitung kam stockend und wenig überzeugend, und in seinem Hinterkopf rumorte ein Unbehagen, weil er das Gefühl hatte, die Kontrolle verloren zu haben. Trotz seines Zögerns hatte er vom ersten Moment an die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer. Die meisten waren in seinem Betrieb angestellt, darüber hinaus waren einige Freunde anwesend und ein paar wenige Fremde, die Per Clausen mitgebracht hatte. Woher und wieso, wusste er nicht, wohl aber, dass sie zu hundert Prozent loyal waren. Und gerade in dem langen Blick einer dieser Unbekannten – einer außergewöhnlich hübschen, jungen Frau mit langen, blonden Locken und aufmunternden, blauen Augen fand er den nötigen Halt, um weiterzureden. Er hob seine Stimme ein wenig und gab sich einen Ruck.
»Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Vater. Kurz darauf zog mein Stiefvater bei uns ein. Von diesem Augenblick an bis zu dem Tag, an dem ich als Zehnjähriger ins Kinderheim kam, wurde ich jede Woche drei-, vier- oder fünfmal vergewaltigt. Sommer wie Winter, wochentags und am Wochenende, Tag und Nacht, Jahr für Jahr. Die Vergewaltigungen waren ein derart fester Bestandteil meiner Kindheit, dass ich lange der Meinung war, das müsse so sein, ja, dass es allen so ging. Man redete nur nicht darüber, das ist, wie wenn man aufs Klo geht: Man tut es, spricht aber nur selten darüber. Als Erwachsener habe ich erkannt, dass ich damals gleichermaßen recht wie unrecht hatte: Es war richtig, man redete nicht darüber, trotzdem ist die Vergewaltigung von Kindern nicht normal, obwohl es ist üblicher ist, als die meisten glauben oder sich vorzustellen bereit sind.«
Er vermied abgedroschene Wörter wie Tabu oder Schuld
.
Der Zusammenhang war einfach und unmittelbar verständlich, es wäre ein Fehler, ihn psychologisch zu überfrachten.
»Als Zehnjähriger habe ich versucht, meine Mutter zu ermorden. Die Tat war unlogisch, da meine Kindheit aus meiner
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