Schwemmholz
Teint, wie ihn Italiener manchmal haben. Beide hoch gewachsen. Stefan und Jörg. Plötzlich sah er den Gerichtssaal wieder vor sich, Veihle auf
die Anklagebank gelümmelt, Stefan Rodek kerzengerade aufgerichtet, wach und gespannt. Ein zweites Bild schob sich darüber, ein Zeitungsausschnitt, strahlend präsentiert der Architekt und Bauunternehmer Jörg Welf sein Projekt . . . Berndorf räusperte sich und stellte nun doch eine Frage.
»Sind Sie Jörg und Stefan – Jörg Welf und Stefan Rodek, um die vollen Namen zu nennen – danach noch einmal begegnet?« Vera runzelte die Stirn. »Ich habe Ihnen Jörgs Familiennamen nicht gesagt. Den von Stefan weiß ich auch gar nicht, oder nicht mehr. Aber die beiden sind mir noch einmal begegnet. Allerdings.« Sie richtete ihre dunklen Augen auf Berndorf. »Es war an dem Abend, an dem ich Hartmut zum ersten Mal zu mir eingeladen hatte. Wir saßen auf der Couch, Hartmut zeigte mir die Bilder, die er von mir gemacht hatte, im Herd hatte ich eine Quiche Lorraine, die noch nicht ganz fertig war.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »In diesem Augenblick klingelte es. Ich ging zur Tür, und an der Sprechanlage meldete sich Jörg. Er wolle mir meinen Schlüssel zurückbringen. Ich sagte ihm, dass er ihn in den Briefkasten werfen soll. Aber das wollte er nicht. ›Das ist nicht mein Stil‹, sagte er. Ich weiß nicht, warum ich nicht alles getan habe, damit er nicht in die Wohnung kommt. Ich hätte es verhindern müssen, und es wäre ein anderes Leben geworden. Aber dann war er schon in der Tür, und hinter ihm kam Stefan, ich wollte ihn nicht hereinlassen, aber er hat mich einfach zur Seite geschoben.«
Ihr Blick blieb an den Schachfiguren hängen. »Hartmut saß noch auf der Couch. Jörg ist auf ihn zu und hat ihm gesagt, er solle verschwinden. Hartmut hat versucht zu widersprechen. ›Das können Sie mit mir nicht machen‹, hat er gesagt. Irgendetwas in der Art. Und Stefan ist zu ihm hin und hat ihn am Arm hochgezogen und zur Tür gedreht, und Hartmut hat sich wegschicken lassen wie ein Schulbub, der nicht zugucken darf, wenn man eine Frau . . .« Sie suchte nach einem Wort. »Wenn man sie fertig macht.« Nach einer Pause fuhr sie fort.
»Jörg hat mir dann in seinem freundlichen, ruhigen Ton erklärt,
dass er noch eine Rechnung mit mir offen hat, und dass ich sie bezahlen werde. Dass ich sie jetzt bezahlen werde. Weil er sich nämlich von einer billigen kleinen Bankangestellten nicht einfach abservieren lässt.«
Sie machte eine Pause und sah auf ihre Hände herunter, die sie im Schoß gefaltet hatte. Berndorf sah, dass die Knöchel ganz weiß waren. Er schwieg und wartete. Vera sagte nichts mehr. »Sie sind später nicht zur Polizei gegangen«, stellte er fest, als er spürte, dass das Warten keinen Sinn mehr ergab.
»Nein, ich bin nicht zur Polizei«, antwortete sie. »Als sie mit mir fertig waren, haben sie mir erklärt, ich könne sie ruhig anzeigen. Sie warteten sogar darauf. Denn sie hätten jede Menge Kumpel, die kalt lächelnd die Hand heben und schwören würden, dass ich es gegen Geld mit jedem mache. Und dass ich besonders scharf darauf sei, wenn es mehrere mit mir tun. Und dass sie es selbst gehört hätten, wie ich Jörg und Stefan darum angebettelt hätte, dass sie bei mir vorbeikommen.«
Sie griff wieder nach der Tasse und ließ die Hand dann doch sinken. »Ich wusste, dass Jörg solche Freunde hatte. Junge Männer, die er vom Sport oder von der Schule her kannte. Für die wäre es ein Jux gewesen, ein Mädchen wie mich bloßzustellen und für das ganze Leben zu demütigen.«
Tamar hatte sich in den Schaukelstuhl in der Ecke des Zimmers geflüchtet, das früher einmal die gute Stube gewesen war und jetzt als Atelier diente. Sie versuchte, das »Tagblatt« zu lesen, aber außer wichtigtuerischen Geschichten über wichtigtuerische Landespolitiker stand nichts drin.
Sie überlegte, ob sie »Orlando« zu Ende lesen sollte. In der Küche rumorte die alte Marie, die dort nur »eben mal« den Abwasch machen wollte und dabei die nervtötende Intensität all jener Menschen an den Tag legte, die »euch überhaupt nicht stören wollen«.
Der Greis Erwin war mit dem Bus in die Stadt gefahren, weil er in den Trümmern nach Überresten des Skrowonek’schen Hausrates suchen wollte. Beim Frühstück hatte er
erzählt, wie sein Elternhaus in Gelsenkirchen-Buer von der Royal Air Force zusammengebombt worden war und wie seine Mutter danach den Schutthaufen durchwühlt
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