Schwemmholz
Der Fahrer zog die Tür neben Krauser auf. Er hatte einen Revolver in der Hand und winkte ihn damit heraus.
Krauser stieg aus und versank bis zu den Knien im Wasser. Er schaute sich um. Sie standen an der Einmündung einer kleinen Straße in das, was einmal die Wiblinger Allee gewesen war. Die kleine Straße führte zum Donauufer.
Falls es noch ein Ufer gab.
Sie wateten die Straße hoch. Das Wasser ging Krauser nur noch bis zu den Knöcheln. Hinter Vorgärten, die zum Gehsteig hin abfielen, standen zwei Häuser. Im Obergeschoss des einen brannte Licht. Ein Hund bellte. Als er damit aufhörte, fiel Krauser ein anhaltendes, eigentümliches Geräusch auf, ein dunkles stetiges Brausen und Knacken und Rauschen. Der Kapo sah sich um. Er hat die Orientierung verloren, dachte Krauser. Für einen Augenblick fühlte er sich besser.
Sie standen neben einer Baustelle. Es war ein mehrgeschossiger Komplex, trotz der Dunkelheit ließen sich Terrassen und Vorsprünge erkennen. Ein Brettersteg führte von der Straße zum Eingang. Unterhalb des Stegs schwappte Wasser.
Der Kapo nickte zu der Baustelle hin, und der Fahrer ging auf dem Brettersteg voran. Krauser zögerte. Der Fahrer drehte sich um und winkte ihm mit dem Revolver. Krauser trat auf den Steg. Hinter ihm folgte der Kapo.
Das ist eine Baustelle, dachte Krauser. Auf einer Baustelle gibt es Zement. Plötzlich knickten seine Beine ein. Für einen Moment schwankte er über dem schwärzlich dümpelnden Wasser.
Ein eiserner Griff packte ihn am rechten Oberarm.
Judith drückte auf den Spülknopf, stand auf und zog sich den Slip hoch. Im Mund spürte sie den pappigen Geschmack von Schlaf und Durst und den Geruch eines überheizten, frisch tapezierten Zimmers. Sie ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Bier war noch da, eine angebrochene Flasche Mineralwasser, und der Moët Chandon, den sie aus dem Feinkostladen mitgebracht hatte. Das war für danach gewesen. Wenn Rodek sie gefickt hatte, trank er Champagner. Er hielt es für weltmännisch. Das heißt, er hatte es dafür gehalten.
Over, dachte sie. Den trink ich allein. Sie holte eine der drei Flaschen heraus und machte sich daran, das Drahtgeflecht des Korkens aufzudrehen.
Plötzlich hielt sie inne. Von irgendwoher kam ein Knacken.
Nein, dachte sie, nicht von irgendwoher. Es kommt von der Tür. Es kann nicht Rodek sein. Rodek ist tot. Portioniert. Begraben unter Kies und Zement. Für alle Zeiten hinter einer soliden, fachmännisch ausgeführten Mauer aufgeräumt. Sie stellte den Champagner auf die Anrichte und drehte sich um. Lautlos schwang die Wohnungstür auf. Judith wollte schreien. Ein untersetzter Mann, einen breitkrempigen Hut in den Nacken geschoben, schlich auf Zehenspitzen in den Flur, füchsisch witternd. In der rechten Hand hielt er einen Revolver. Der Revolver schien schussbereit, denn die linke Hand war auf der rechten aufgelegt, um den Rückstoß aufzufangen.
Was ist das nun schon wieder, dachte Judith. Was immer es war: erschüttern würde es sie nicht. Nichts mehr würde sie jemals erschüttern.
Der Mann sah sie. Er ließ den Revolver sinken und grinste. Judith blickte an sich herunter. Außer dem Slip trug sie eine offene Trainingsjacke. Sonst nichts. Sie griff zu den beiden Enden der Jacke, um den Reißverschluß einzuhaken.
Hinter ihr machte es plopp . Der Mann mit dem Hut warf sich längelang auf den Boden und riss den Revolver hoch und schoss. Judith hatte nicht gedacht, dass Revolver einen solch infernalischen Krach machen können. Die Beretta, die Rodek sie im Wald bei Langenargen hatte ausprobieren lassen, war nicht so laut gewesen. Sie presste sich die Hände gegen ihre Ohren. Neben ihr schlugen Kugeln in den Küchenschrank, Modell Bocuse, ein. Die Kugeln rissen nicht nur Löcher, sondern ließen das Furnier splittern. Plötzlich sah der Küchenschrank aus wie das Modell Berlin 1945. Der Moët Chandon schäumte auf die Anrichte.
Der Mann auf dem Boden hörte zu schießen auf und starrte sie ratlos an. Der Hut war zur Seite gerollt und hatte eine Glatze entblößt, die an die Tonsur eines Mönchs erinnerte. Ein entsprungener Franziskaner, überlegte Judith. Vor der Tür sah sie zwei weitere Männer. Der eine hielt den anderen am Kragen gepackt und presste ihm einen Revolver gegen die Schläfe.
Jetzt wird mir alles klar, dachte Judith. Kein Problem, nirgends. Die Welt ist ganz einfach verrückt geworden.
Sonntag, 30. Mai
Berndorf schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und
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