Schwemmholz
nahm sich das Schachrätsel des »Zeit«-Magazins vor. Die Tasche mit den Badesachen hatte er wieder ausgepackt. Der neue Bade-und Saunatempel Atlantis hatte seinem Namen alle Ehre gemacht und war in den Fluten von Donau und Iller abgesoffen. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk standen entlang Donau, Iller und Blau im Großeinsatz, das Jaulen der Martinshörner konnte er bis in seine Wohnung hören. Das Schachrätsel war in dieser Woche insofern ungewöhnlich, als das Diagramm keine Damen zeigte. Zu den Ritualen des Rätsels gehörte es sonst, dass der Gewinnzug ein Damenopfer war.
Öfter mal was Neues, dachte Berndorf. Es klingelte. Er zuckte die Achseln, stand etwas mühsam auf, nahm seinen Krückstock und ging zur Tür.
Die Frau vor der Tür trug einen hellen Sommermantel und darunter ein adrettes, nicht zu feiertägliches Kostüm. Sie hatte ein gleichmäßiges, ovales Gesicht und dunkelkastanienrot getöntes Haar, an dessen Wurzeln man vermutlich das nachwachsende Grau würde feststellen können, wenn man es darauf anlegte. Trotz des Puders, den sie aufgelegt hatte, konnte Berndorf erkennen, dass die Frau eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und von Kummer gezeichnet war. Willkommen auf dem Ball der verwundeten Herzen, dachte er.
»Bin ich richtig bei Kommissar Berndorf?«, fragte eine angenehme Stimme, in der ganz ferne die Andeutung eines Akzents mitschwang.
»Mein Name ist Berndorf, das ist richtig«, antwortete er. »Aber treten Sie doch ein.« Was immer sie von ihm wollte, war nicht für eine Unterredung zwischen Tür und Angel bestimmt. Sie begann sich zu entschuldigen, dass sie ihn am
Sonntagmorgen aufsuche und störe. »Aber nein«, unterbrach er, »Sie stören mich nicht.« Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in der Garderobe auf. Verlegen folgte sie ihm in sein Zimmer und schaute sich um. Berndorf sah, dass ihr Blick auf das gerahmte Foto fiel, das Barbara zeigte, und irgendwie schien sie das zu beruhigen. Er bot ihr den Sessel auf der anderen Seite des Schachtischs an und fragte, ob sie eine Tasse Tee mit ihm trinken wolle. Sie nahm an. Berndorf holte die zweite Tasse, schenkte ein und setzte sich. Die Besucherin saß im Gegenlicht, die Handtasche im Schoß und die Hände darüber gefaltet.
»Vielleicht sagen Sie mir einfach, wie Sie heißen und wer Sie sind«, sagte er. »Das Weitere findet sich dann.«
»Oh,« antwortete sie, und statt ihren Namen zu sagen, begann sie wieder, sich zu entschuldigen. Berndorf wartete. Plötzlich brachen die Entschuldigungen ab. »Ich heiße Claudia Lehmann, und ich bin wegen Freddie hier.« Freddie, dachte Berndorf. »Freddie ist mein – nein, Verlobter kann man nicht sagen. Aber es ist so etwas Ähnliches. Und er hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich glaube, er bewundert Sie. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen.«
Von einem Freddie, dachte Berndorf, will ich aber lieber nicht bewundert werden.
»Es ist so«, sagte Claudia Lehmann, »er ist gestern nicht zurückgekommen. Dabei hatte ich Wachteln in Minzsauce vorbereitet. Ich weiß, dass er sich darauf gefreut hat.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch.
Berndorf nutzte die Unterbrechung. »Sagen Sie mir, wer Freddie ist?«
»Ach, ich dachte, Sie wüssten es«, sagte sie enttäuscht. »Er hat mir immer erzählt, Sie würden ihn so nennen.«
Das wird ja immer schöner, dachte Berndorf. Gott soll mich schützen, dass ich einen Menschen jemals Freddie nenne.
»Er arbeitet doch für Sie«, fuhr sie fort. »Alfred. Polizeihauptmeister Alfred Krauser.«
Berndorf überkam die heftige Empfindung, er sei gegen einen
tief fliegenden Esel gelaufen. Mein Gott, Krauser. Krauser vom Duo infernale. Der uniformierte Schrecken des Blautals. Wie kommt dieser Mensch an so eine adrette und liebe Frau? Selbst im Gegenlicht sah er, dass Claudia am Rande der Verzweiflung war.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich stand auf der Leitung. So früh am Morgen, verstehen Sie. Aber jetzt sagen Sie mir bitte, wohin« – er atmete kurz durch – »wohin Freddie gegangen und wovon er nicht zurückgekommen ist.«
Claudia Lehmann begann zu reden, und allmählich nahm die Geschichte Konturen an. Die Geschichte der verwitweten Frau, die Italienisch-Kurse in der Volkshochschule gibt, um etwas zu tun zu haben und ein bisschen Geld zu verdienen. Die einen der Kursteilnehmer näher kennen lernt. Es ist ein Polizeibeamter, der allein lebt und der – wer hätte es gedacht! – einen Traum hat. Er träumt
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