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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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erkennen, ob das Gegenüber einen fressen wird oder vor einem davonlaufen. Aber haben wir es nicht gerade von der Liebe? Vielleicht geht es auch in der Liebe nur ums Dableiben oder Davonlaufen.
    Eine Stimme schreckte ihn hoch. Jemand fragte ihn, ob der dritte Stuhl an seinem Tisch noch frei sei. Berndorf schaute auf und sah in die dunklen Kummeraugen der Vochezer-Schwiegertochter. Berndorf machte eine einladende Handbewegung und sie setzte sich artig, eine Tasse Kaffee in der Hand haltend. »Bei meinem Schwiegervater ist grad der Herr Pfarrer mit dem Vorstand vom Kirchenchor«, erklärte sie. Das ist nun allerdings Grund genug, das Weite zu suchen, dachte Berndorf. Zum ersten Mal sah er sich die junge Frau genauer an. Sie konnte nicht viel über dreißig sein, und sie hatte
ein hübsches Gesicht mit runden Wangen. Oder vielmehr, sie hätte ein hübsches Gesicht gehabt, wenn sich um den Mund nicht ein Zug von Bitterkeit, Resignation eingegraben hätte. »Ihr Herr Schwiegervater ist eine Respektsperson«, stellte er fest.
    »Wenn eines krank ist, dann besucht man es. Die Leute auf dem Land kennen es nicht anders«, sagte sie ausweichend. »Für die Zugezogenen im neuen Wohngebiet gilt das schon nicht mehr.«
    Sie war keine Bäuerin, dachte Berndorf, und auch keine Bauerntochter. Sie sprach mit einer kaum wahrnehmbaren Dialektfärbung, die aber nicht nach Oberschwaben klang.
    »Sie kommen aus Ulm?« Sie sah erschrocken hoch. »Nein«, sagte sie abwehrend, »das heißt, vor meiner Heirat hab ich in Ulm gearbeitet.« Sie trank ihren Kaffee in hastigen Schlucken aus und stand auf und verabschiedete sich.
     
    Die Straße führte zu Wiesen und bewaldeten Hügeln hinab. In der Ferne lag blaugrau der Bodensee. Vor einer Baustelle schaltete Judith Norden herunter und bremste den Alfa Romeo Spider mit dem Motor ab. Auf der Baustelle arbeitete niemand. Judith beschleunigte wieder. Der Alfa röhrte auf. Der Mann neben ihr lehnte sich im Beifahrersitz zurück. Um seine Beine unterzubringen, hatte er den Sitz so weit zurückgeschoben, wie es ging. Sie wusste schon, dass er nicht viel redete. Es würden einsilbige Tage werden.
    Tage, in denen sie mit four letter words auskommen würde.
    »Deine Karre läuft nicht rund«, sagte der Mann plötzlich. »Itaker-Schrott. Es würd’ mich wundern, wenn du damit wieder nach Ulm kommst.«
    Du weißt nicht, was ein gutes Auto ist, dachte Judith. Sie kamen an einer weiträumigen Anlage mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden vorbei. »Behinderte queren« stand auf einem Warnschild. Judith nahm den Fuß vom Gaspedal.
    »Was’n das?«, fragte der Mann belustigt. »Tun sie’s auf allen vieren?«

    »Wenn du über eine Straße gehst, querst du sie auch.«
    »Quatsch. Wenn ich über eine Straße gehe, gehe ich über eine Straße.«
    Judith zuckte die Achseln. Sie passierten das Ortsende und sie beschleunigte.
    »Warum bringt eigentlich Jörg seinen kleinen Deppen nicht hierher?«, fragte der Mann.
    »Frag ihn selber.« Judith schaltete hoch. »Außerdem kenn ich das Kind nicht. Aber ein kleiner Depp ist es nicht. Es ist ein Kind mit Downsyndrom, die Leute wissen gar nicht, wie einfühlsam und nett diese Kinder sind.«
    »Hör mir auf mit dieser Sülze«, sagte der Mann. »Woher willst’n das überhaupt wissen?«
    »Ich hab mal in einem Team gearbeitet, das ein solches Heim bauen wollte«, antwortete Judith. »Und da hab ich vorher ein Praktikum gemacht. Verstehst du, wir wollten wissen, worauf es ankommt. Was diese Kinder brauchen.«
    »Und? Habt ihr’s gebaut?«
    »Nein«, sagte Judith. »Unser Entwurf hat nicht den Richtlinien entsprochen.«
    »Ihr hättet zu teuer gebaut, wie? Das Geld zum Fenster rausgeschmissen?«
    Judith schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren nicht zu teuer. Wir waren zu billig. Unser Heim hätte zu wenig gekostet. Der Landeswohlfahrtsverband hätte keine Zuschüsse gegeben.«
     
    Es war Schichtende, und Schaffranek schloss die Stahltore der Einfahrt. Dann ließ er die beiden Hunde aus ihrem Zwinger. Ajax und Türk begrüßten ihn kurz, indem sie sich wedelnd an ihn drückten, dann schossen sie los, dem Drahtzaun entlang, auf dem Weg durch ihr angestammtes Revier. Im Industriegebiet war es noch ruhig. Später würde man das Wummern der Disco hören, und das Kreischen der Mädchen.
    Plötzlich schlugen die Hunde an. Sie standen vor der Einfahrt und witterten durch das Gittertor zu einem grauen Lieferwagen auf der anderen Straßenseite. Monteure, dachte
Schaffranek,immer waren

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