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Schwemmholz

Schwemmholz

Titel: Schwemmholz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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bald waren die letzten Gäste gegangen und die erste Rate von Gläsern und Tellern in der Spülmaschine verstaut. Barbara hatte vorsichtshalber zwei Aspirin genommen, schien aber nicht beeinträchtigt.
    »Ich fürchte, ich habe mich sehr hölzern aufgeführt«, hatte Berndorf während des Aufräumens gemeint.
    »Du musst etwas lernen, mein Schatz: Bei mir darfst du dich so hölzern und unbeholfen aufführen, wie immer du magst oder lustig bist«, hatte sie geantwortet. »Nur eines darfst du nicht: dich von irgendwelchen Sammlerinnen anmachen lassen. Sonst fahr ich ganz schnell die Krallen aus.«
    Würdig hatte Berndorf erklärt, als älterer Herr werde er sich wohl kaum von einer ihrer Freundinnen anmachen lassen. »Außerdem wollte die Dame, falls es die gleiche ist, die wir meinen, Bullen verscheißern spielen und sonst nichts.«
    »Das ist durchaus nicht meine Freundin, jedenfalls nicht, wenn sie in meinem Revier das Sammeln beginnt. Mit welchem Vorwand hat sie dich denn ins Gespräch verstrickt?«
    »Sie wollte wissen, woran man Mörder erkennt.«
     
    Inzwischen war Barbara zu Bett gegangen, Berndorf, der noch einen späten Espresso getrunken hatte, war zum Schlafen zu aufgekratzt. Er ging in ihr Arbeitszimmer, setzte sich in den Schaukelstuhl, der für Lese-Gäste bestimmt war, und nahm sich Lichtenbergs Abrechnung mit Lavaters Physiognomik vor. Die Nacht war still geworden, und aus Barbaras Wohnung wichen allmählich der Geruch und der Nachhall des Abends. Seine Streitschrift gegen den Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater und dessen »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« hatte Lichtenberg 1777/78 veröffentlicht. Einem Schelmen müsse man am Gesicht ablesen können, dass er einer sei, oder Gott habe keine leserliche Handschrift: so hatte, verkürzt,
eine der Thesen gelautet, denen Lichtenberg die bescheidene Frage entgegenstellte, ob es denn wirklich die Nase und nicht vielleicht doch die Umstände seien, die aus einem Menschen den Schelmen oder den Ehrenmann machen.
    »Freilich«, schrieb Lichtenberg, »wer schöne Spitzbuben, glatte Betrüger und reizende Waisenschinder sehen will, muss sie nicht gerade immer hinter den Hecken und in Dorfkerkern suchen. Er muss hingehen, wo sie aus Silber speisen, wo sie Gesichterkenntnis und Macht über ihre Muskeln haben, wo sie mit einem Achselzucken Familien unglücklich machen und ehrliche Namen und Kredit über den Haufen wispern oder mit affektierter Unschlüssigkeit wegstottern.«
    Berndorf ließ das Buch sinken. Bei manchen der »glatten Betrüger«, die ihm selber begegnet waren, hatte den Kommissar vor allem die Offensichtlichkeit frappiert, mit der ihnen ganz im Gegenteil die Unehrlichkeit ins Gesicht geschrieben war. Es ist ihr Geschäftsinteresse, dass sie so aussehen, dachte er. Wenn ein Geldgeber 48 oder 72 Prozent Jahresrendite erwartet, dann nimmt er nicht nur in Kauf, sondern verlangt geradezu, dass sein neuer Partner einer ist, der die Weihnachtsgänse ausnimmt. Dass der Geldgeber selbst eine davon sein wird, ist der einzige Punkt, der nicht seinen Erwartungen entspricht. Innerhalb ihrer Möglichkeiten sind Betrüger aufrichtige Leute. Mörder hingegen, sinnierte Berndorf vor sich hin, sind einem übermächtigen Druck ausgesetzt, sich zu verstellen. Manche töten sogar aus dem einzigen Grund, weil sonst ihre Maskierung aufgedeckt wird. Die Fähigkeit zur Verstellung wächst nun allerdings mit dem gesellschaftlichen Rang. Wo also musst du suchen, wenn du einen reizenden, einen glattgesichtigen Mörder finden willst?
    Unsinn, ermahnte er sich. Geh schlafen.

Samstag, 15. Mai, Berlin
    Ob es nun die beiden Aspirin waren oder vielleicht doch die intensive und eindringliche Weise, in der sie sich geweckt hatten: Barbara spürte am nächsten Morgen nicht einmal einen Hauch von Kopfweh. »Fast wundert es mich«, sagte sie. »Ich bekomme sonst regelmäßig eine allergische Reaktion auf meine Kollegen. Und Kolleginnen.«
    Von mir aus hättest du dir das nicht antun müssen, dachte Berndorf und warf ihr einen fragenden Blick zu.
    »Es war aber richtig«, widersprach Barbara. »Ich habe etwas klarstellen können. Oder deutlich machen.« Sie schaute ihn prüfend an. »Und du hast es auch gut überstanden. Aber ich sehe dir an, dass dir noch etwas im Kopf herumgeht.«
    »Ich hab noch ein bisschen geschmökert. Wusstest du, dass Lichtenberg anno Domini 1777 die Chaostheorie angedacht hat?« Er holte den Band aus seiner

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