Schwemmholz
oder auch nur betrunken. Der Polizeifotograf musste sich unter die anderen Bildjournalisten gemischt und versucht haben, mit dem Teleobjektiv Gesicht für Gesicht zu erfassen. Tamar stellte fest, dass man die einzelnen Aufnahmen sogar sehr gut auseinanderhalten konnte. Es waren ungeformte, leere Gesichter, auf denen sich der Abglanz von etwas spiegelte, das außerhalb von ihnen lag. Aber es war nicht so, dass die Monotonie oder Stumpfheit ihrer Empfindungen sie verwechselbar gemacht hätte. Jeder dieser jungen Männer hatte seine eigene Vorgeschichte und seine eigene Verantwortung, was immer sie damit anfingen.
Wieder schüttelte der Mann den Kopf. »Auch nicht.« Tamar überlegte, ob ihr Zeuge da vielleicht Anrufe erhalten hatte. Dass es besser sei, sich an nichts zu erinnern. Aber warum hatte er sich dann so bereitwillig gegeben? Damit ihm die Polizei das Nicht-Erinnern auch wirklich abnahm?
Das nächste Dia zeigte einen Burschen mit nur zur Hälfte erkennbarem Gesicht und nach vorne gerecktem rechten Arm. Hinter ihm war ein zweiter Kopf zu erahnen, zu sehen waren Augen und Nase, die Kinnpartie war zum Teil verdeckt. In Puzzlespielen gab es solche Gesichtsfragmente, erinnerte sich Tamar, ein herrenloses Auge starrte einen da an, und erst nach langem Suchen fand man die anderen Teilstücke, mit denen es sich unversehens zu einem Gesicht fügte. Es war ein Spiel für lange verregnete Sonntagnachmittage. »Könnten Sie den dahinten größer machen?«, hörte sie den Tankwart fragen.
»Angst«, sagte der Psychiater, »also Angst. Wer hat die nicht?« Er sah Berndorf an, der auf der anderen Seite des dunkel polierten Schreibtisches saß. »Sie saßen in einem Auto, das zusammengequetscht wurde. Es ist eine vollkommen natürliche Reaktion, wenn Ihr Unterbewusstsein sich weigert, noch einmal eine solche Erfahrung zu machen.«
Dr. Immanuel Goldstein war Teilhaber einer Gemeinschaftspraxis für Psychiatrie und Psychotherapie im vornehmen Teil Zehlendorfs. Er trug einen weißen Kittel, weil das auf viele Patienten beruhigend wirkte, und er hatte den Anteil nehmenden und wissenden Blick jener Menschen, die alles schon viel schlimmer erlebt haben.
»Sehen Sie«, fuhr er fort, »ich habe nachts Angst, mit dem Wagen unterwegs zu sein, weil dann die betrunkenen jungen Männer aus dem Brandenburgischen ihre Wettrennen mit gestohlenen Autos machen. Ich habe aber auch Angst, nachts mit der U-Bahn zu fahren. Was soll ich tun, wenn ich in der U-Bahn sitze und neben mir ein Ausländer zusammengeschlagen wird, weil er ein Farbiger ist? Ich bin nämlich nicht mutig, bin es noch nie gewesen. Muss man das heute sein?«
Berndorf dachte nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Niemand muss mutig sein. Aber wenn Ihnen das wirklich einmal passieren sollte – ziehen Sie einfach die Notbremse.«
Dr. Goldstein blickte überrascht. »Ach ja«, meinte er dann. »Aber ich werde vielleicht doch besser das Taxi nehmen. Apropos. Und welche Notbremse könnten Sie ziehen?«
Berndorf erklärte es ihm.
Die Wohnung roch nach Bohnerwachs und alten Menschen. Sie war enger, als Hannah es in Erinnerung hatte. Noch immer gab es die braunrote Polstergarnitur, auch wenn die eine oder andere Feder aus Altersschwäche gebrochen war. Maria Skrowonek hantierte in der Küche und wollte einen Tee kochen. Ihr Mann Erwin hockte trübsinnig und unrasiert auf der Couch. Hannah wollte wissen, ob es noch einmal Ärger mit den Burschen aus der unteren Wohnung gegeben habe. Erwin Skrowonek schüttelte den Kopf. »Es ist nur noch einer. Der Tätowierte. Der andere ist zur Kur.«
»Ach Quatsch«, sagte Maria, die mit einem Napfkuchen ins Wohnzimmer kam, »der Döskopp da versteht schon alles falsch. Eingesperrt haben sie den Kerl. Er hat einer alten Frau die Handtasche abgenommen. Jetzt kriegt er die Luft gesiebt.«
»Und der andere benimmt sich?«
»Das ist aber komisch, dass du danach fragst«, sagte Maria Skrowonek und verschränkte die Hände vor ihrer Küchenschürze. »Der ist plötzlich so freundlich. Neulich hat er ihm« – sie deutete mit dem Kopf auf ihren Ehemann – »das Einkaufsnetz hochgetragen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Sie zögerte. »Wir sind jetzt ja allein mit ihm im Haus. Die Albaner sind ausgezogen.«
In der Küche pfiff der Wasserkessel. Seufzend nahm Maria eine blank polierte silbrige Teekanne von der Anrichte und ging damit in die Küche. Sie hielt die Kanne, als könne man sich schon jetzt an ihr die Finger
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